Wolfsfieber
der Schwindel, den seine körperliche
Gegenwart bei mir verursachte, kam nun wieder über mich.
„Oh, ich verstehe“, murmelte er vor sich hin und wendete
den Blick von mir ab.
„Tut mir leid. Ich wollte nicht wieder davon anfangen“,
entschuldigte ich mich bei ihm und verfluchte mein ver-
dammtes Herz und seine unangebrachten Reaktionen, die
ich in seiner Gegenwart nie ganz verheimlichen konnte. Es
fiel mir immer noch schwer, mich daran zu gewöhnen. Im-
merhin war ich sehr lange Zeit gewohnt, bestimmte Dinge
immer für mich zu behalten. Das war von dem Zeitpunkt an
194
vorbei, als ich Istvan begegnete, ja, eigentlich wiederbegeg-
net war. Er schien das Thema dennoch aufgreifen zu wollen,
um einiges zu klären.
„Ich verstehe das. Schließlich habe ich dir genug Grund
gegeben, mir zu misstrauen. Ich wollte dich nicht wegstoßen,
darum ging es nie. Ich hoffe, du weißt das. Es ist nur … ich
wollte dich nicht beeinflussen. Ich hatte Angst, du könntest
nur aus Dankbarkeit mit mir zusammen sein wollen. Es war
so hart, dir nie die ganze Wahrheit sagen zu können, aber ich
musste zuerst nur ein Freund sein. Nur so konnte ich ergrün-
den, was in dir vorging, konnte deine verschiedenen Herz-
reaktionen lesen lernen. Es dauert, bis man die Feinheiten
eines Herzschlages interpretieren kann. Bis man Erregung
von Aufregung unterscheiden kann. Ich musste sicher gehen,
dass ich an dir nicht nur hörte, was ich hören wollte. Und ich
kämpfe immer noch mit der Tatsache, dass ich es eigentlich
nicht verdiene, dich bei mir zu haben, dass es falsch ist, dich
bei mir haben zu wollen.“ Während er mir das alles sagte, zog
er mich wieder zu sich. Istvan hatte dabei aber immer einen
traurigen, gequälten Blick, der mich nervös machte.
Ich umarmte ihn stürmisch, fest. Ich schloss meine Au-
gen und verstand. Ich verstand seinen Schmerz, seine Be-
denken. Aber ich wollte sie von ihm nehmen, ihn endlich
aussöhnen mit dieser Selbstzerfleischung. Ich war es, die
ihn nicht verdiente, dessen war ich mir sicher. Doch ich war
selbstsüchtig genug, ihn dennoch zu nehmen. Ich verweilte
in seiner Umarmung und sprach zu ihm.
„Istvan, bitte überwinde diesen Selbsthass in dir. Ich er-
trage es kaum, dich so sprechen zu hören. Du hast mich
gerettet. Du hast einem kleinen Mädchen ermöglicht, eine
Frau zu werden. Eine Frau, die jetzt bei dir sein will, die sich
dessen ganz sicher ist. Ich kann jetzt viel besser verstehen,
wieso du diese Dinge für dich behalten hast. Es war not-
wendig, das weiß ich jetzt. Und wäre ich an deiner Stelle
gewesen, hätte ich vermutlich dasselbe getan. Also, hör auf,
dich ständig anzuklagen.“
195
Den letzten Satz hatte ich ihm direkt ins Gesicht gesagt.
Ich musste wissen, ob meine Botschaft bei ihm ankam. Ob
er sich für uns überwinden konnte. Er sah mich lange an. Er
kaute forschend auf seiner Unterlippe, bevor er mich dann
sanft küsste.
„Ich tue mein Bestes, versprochen, Joe“, versicherte er
mir.
Das genügte mir. Solange er nur an uns glaubte, würde
ich mit allem anderen schon fertig werden. Sein Selbsthass,
die Gefahren seiner Welt und die Schwierigkeiten einer ge-
heimen Liebe schienen mir nicht länger unüberwindlich und
auch er schien endlich Vertrauen in uns zu haben.
Nach seinem Versprechen kam die Erschöpfung über uns
beide.
Es war ein ereignisreicher Tag, der hinter uns lag. Wir
sanken auf die Kissen seines Bettes. Wir sahen uns im Lie-
gen forschend an, berührten uns dabei nicht. Jeder blieb auf
seiner Seite des Bettes, gefesselt von der Anwesenheit des
anderen, gefesselt von der frisch entdeckten Natur unserer
Gefühle füreinander. Meine Augen erkundeten die Land-
schaft seines Gesichtes. Mein Blick schweifte über die lange
Form seiner Braue, die Konturen seiner Wangenknochen, die
auf dem weißen Kissen hervortraten. Die zarte Form seines
Nasenrückens war mir noch immer unbegreiflich. Der An-
blick seines mit kurzen, dichten Stoppeln übersäten Kinns
erinnerte mich wieder an das Gefühl des leichten, angeneh-
men Kratzens auf meiner Haut, als wir uns küssten. Nach
seiner Wanderschaft kehrte mein Blick immer wieder zu
seinen Augen zurück, den grünen Fixsternen seines Univer-
sums, meines Universums. Ich fühlte ein Kribbeln auf mir,
die ganze Zeit, während ich auch seinen Blick auf mir spürte.
Er schien oft die Konturen meines Haares auf dem Kissen zu
verfolgen. Auch sein schweifender
Weitere Kostenlose Bücher