Wolfsfieber
Besche-
rung. Und ich war ebenso ungeduldig und übernervös. Auf
der Bank hatte ich dann eine Rolle Münzen fallen gelassen.
Die einzelnen, kupfernen Geldstücke lagen überall verstreut
auf dem Boden. Alle Kunden drehten sich sofort um und
sahen mir dabei zu, wie ich beschämt das Geld aufsammelte.
Ich hoffte inständig, in der kommenden Nacht weniger un-
geschickt zu sein. Ich konnte es noch nicht einmal ertragen,
Musik zu hören, was mich sonst immer beruhigte. Doch ich
hatte schon einen Grad an innerer Anspannung erreicht, bei
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dem nichts mehr half. Zu allem Überfluss musste ich auch
noch zum Sonntagsessen zu meinem Bruder. Ich befürchte-
te, sie könnten mir ansehen, dass ich kurz vor dem Ausrasten
stand. Aber sie taten es nicht. Carla hätte es bestimmt sofort
bemerkt. Gut, dass sie gerade einen Wochenendausflug mit
Christian unternahm. So kam ich erst gar nicht in Versu-
chung, sie anzurufen und um weiblichen Beistand zu bitten.
Ich hätte es ohnehin nicht gekonnt.
Während des gesamten Essens hatte Paula von ihren
neuen Skiern geschwärmt und von den Skiausflügen, die ihr
Viktor versprochen hatte, im Laufe dieses Winters mit ihr zu
unternehmen. Mein Bruder schien sich über ihre Begeiste-
rung dabei noch mehr zu freuen als Paula selbst. Das war ty-
pisch für ihn. Es machte ihm immer mehr Freude zu schen-
ken als beschenkt zu werden. In diesem Punkt ähnelten wir
uns sehr. Viktor hatte sich noch nie für mein Liebesleben
interessiert, wofür ich dankbar war. Aber irgendetwas sagte
mir, dass er mit meiner, zugegeben „exotischen“, Männer-
wahl nicht einverstanden wäre.
Ich glaubte sogar, niemand außer mir könnte tatsächlich
verstehen, was mich all diese Risiken eingehen und all die-
se Hürden überwinden ließ. Seltsam daran war nur, dass es
mir im Grunde ganz anders vorkam. Dass ich dankbar war
für dieses außergewöhnliche Geschenk und dass ich es gar
nicht anders hätte haben wollen. Denn wenn man es genau
nahm – würde man auch nur eine Variable ändern, ein klei-
nes Ereignis aus der Chronologie der Dinge und Abläufe ent-
fernen, wären Istvan und ich nicht mehr das, was wir waren.
Doch was wir waren, war im Begriff, sich zu verändern, noch
tiefer zu gehen. Ich musste nur noch ein paar Stunden war-
ten. Nur ein paar Stunden mehr.
Am selben Abend noch drehte ich vollends durch. Was sollte
ich bloß tragen? Wie mich verhalten? Ich hatte Angst, etwas
Falsches zu sagen, etwas, das die Stimmung ruinieren könn-
te. Er kannte bereits meine Neigung zu unangebrachten
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Scherzen in Stresssituationen. Ich wünschte mir verzweifelt,
einmal die Klappe im richtigen Moment halten zu können.
Ich entschied mich baden zu gehen und hoffte, das kühle
Wasser würde mich etwas erfrischen. Als ich nochmals an-
fing, meine Haare einzushampoonieren, bemerkte ich, dass
ich sie bereits gewaschen hatte. Beruhige dich endlich, sagte
ich mir ständig. Aber es half nichts.
Das blutrote Top und den schwarzen Rock, die ich zuvor
sorgsam auf das Bett gelegt hatte, betrachtete ich lange prü-
fend und legte dann beides wieder in den Schrank zurück.
Wollte ich denn wirklich derart zurechtgemacht wirken?
Nein. Ich legte alle schicken Klamotten, nicht gerade vie-
le, wieder zurück in den Kleiderkasten. Blöde Idee, tadelte
ich mich selbst. Nur hatte ich nun keinen blassen Dunst,
was ich sonst anziehen sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht
als jemand anderes zu ihm gehen wollte. Ich wollte schon
aussehen wie ich selbst. Also tat ich, was wohl jede ande-
re Frau sorgsam vermieden hätte, ich nahm mir die, zuvor
bereits getragene, schwarze Jeans und schnappte mir noch
das dunkelrote, engere Langarmshirt mit dem Spitzenbesatz,
von dem er mir einmal gesagt hatte, es würde gut zu meinem
Pfirsichteint passen. Das würde gehen. Es blieb mir sowieso
nicht mehr viel Zeit.
Ich bürstete meine Haare nochmals und legte etwas röt-
lichen Lippenstift auf, nur um ihn dann wieder fast gänz-
lich abzuwischen. Ich wollte kein künstliches Lippenrot, ich
brauchte ein bestimmtes Rot auf meinen Lippen, das man
nur von endlos gierigen Küssen bekam.
Es war Zeit zu gehen. Ich ging in die Küche, um meinen
schwarzen Wintermantel und die Handschuhe zu holen. Da
sah ich, dass draußen ein kleiner Sturm tobte. Es war stock-
finster und der Wind rüttelte an den Bäumen und am Fens-
ter. Ich würde auch einen Schal brauchen. Ich musste zu
Fuß gehen, wie
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