Wolfsfieber
küsste ihn erneut.
„Die Bibliothek scheint langsam zu florieren“, merkte er
an und fügte hinzu, „normalerweise würde mich das freuen,
aber heute würde ich lieber etwas anderes tun, als Schüle-
rinnen bei ihrer Arbeit zu helfen.“ Seine Augenbraue hatte er
während dieser Andeutung gespielt hochgezogen.
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„Na ja, du kannst mir ja später zeigen, was du damit meinst“,
ging ich auf sein Spiel ein und sagte ihm, dass ich gegen sechs
bei ihm vorbeischauen würde. Da fiel mir ein, dass wir kurz
vor einem neuen Zyklus von Vollmondnächten standen.
„Oh, verdammt! Ich hätte es fast vergessen!“, stieß ich
jetzt hervor.
„Keine Sorge. Ich habe nur vor, dich ein paar Stunden lang
zu küssen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst“,
grinste er und küsste mich zum Abschied schnell noch auf
die Wange, ehe er sich zurück in die Bibliothek schlich.
Später an diesem Abend setzte er sein Vorhaben in die Tat
um. Istvan hielt seine Versprechen. Wir lagen auf seinem
Bett, hörten eine Platte meiner Lieblingsband, die er bestellt
hatte, damit ich sie auch bei ihm hören konnte, und küssten
uns so lange, dass meine Lippen beinahe taub und ganz ge-
schwollen waren.
Ich war gerade dabei, die Platte zu wenden, um meinen
Lieblingssong nochmals zu hören, da fuhr Istvan im Bett
hoch. Mit aufgerissenen Augen starrte er zur Decke.
„Jemand ist auf dem Dach. Sein Herzschlag ist beschleu-
nigt“, sagte er kühl.
„Was? Wer kann das sein?“, fragte ich aufgeregt.
„Ich weiß es nicht. Aber ich finde es heraus.“ Er beende-
te den Satz nicht mal und war schon aus der Tür. Ich blieb
erschrocken im Zimmer zurück, hörte plötzlich ein Poltern
über mir, starrte besorgt an die Zimmerdecke und verfolgte
die Geräusche mit meinem Blick.
Ein paar Minuten später war Istvan zurück.
„Es war ein Mann, das konnte ich an seiner Witterung
erkennen. Er ist aber schon weg. Keine Ahnung, wie er so
schnell sein konnte. Er kam durch die Dachluke, vermutlich
ein Einbrecher“, versuchte er mich zu beruhigen.
„Ja, das wird es wohl sein. Es gab in letzter Zeit öfter sol-
che Einbrüche, vor allem in Rohnitz. Die Grenze zu Ungarn
bringt diese Probleme mit sich“, versicherte ich ihm.
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Er nahm mich in den Arm und ich musste ihm verspre-
chen, in der nächsten Nacht, der ersten Vollmondnacht, hier
nicht allein auf ihn zu warten. Er wollte lieber, dass ich mit
ihm in den Wald ging und mich im Auto einsperrte. Ich hielt
das für übertrieben, und als ich am nächsten Tag von der
Redaktion darüber informiert wurde, dass es mehrere Ein-
brüche im Bezirk gegeben hätte und der Täter bereits ge-
fasst sei, konnte ich Istvan dazu überreden, die Nacht bei
mir zu Hause zu warten und ihn dann erst mit dem Wagen
am nächsten Morgen abzuholen. Er war zwar einverstanden,
blieb aber weiterhin besorgt.
Seit sich unsere Beziehung vertieft hatte, schienen sich
auch Istvans Verwandlungsschmerzen merklich verbessert
zu haben, wofür ich mehr als dankbar war.
Als ich ihn am nächsten Morgen abholte, mit seinem
Camaro diesmal, und er sich mit mir auf die Decke legte,
starrten wir lange in die Baumkronen und ich legte meinen
Kopf auf seinen Bauch, während er mit meinen Haarspitzen
spielte. In diesem friedlichen Moment war ich mir sicher,
dass ich ihn immer lieben würde, egal was passieren würde.
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14. Die Entführung
Es war gerade eine Stunde nach Mitternacht und ein paar
Minuten, nachdem ich mich von Istvan verabschiedet hatte.
Eigentlich wollte ich gar nicht gehen, doch dieses Mal konn-
te ich nicht die halbe Nacht bleiben. Es galt immer noch den
Schein zu wahren, damit niemand etwas mitbekam, und es
warteten noch zwei Artikel auf mich, die ich noch schreiben
und bis spätestens Mittag an die Redaktion mailen muss-
te. Außerdem war es die letzte Vollmondnacht und Istvan
konnte seine Wolfsverwandlung nicht länger hinauszögern,
ohne unerträglich zu leiden. Der Heimweg fiel mir in dieser
Nacht besonders schwer, weil es ein so friedlicher, ange-
nehmer Abend gewesen war. Dieses Mal hatte ich mich zu-
sammengerissen und ihn nicht ausgefragt wie üblich und er
schien entspannter und weniger besorgt als sonst. Auch die
Symptome seiner herannahenden Verwandlung schienen in
dieser Nacht weniger heftig zu sein. Und da die Verabschie-
dung dann noch so verführerisch war, fiel es mir noch viel
schwerer, mich loszueisen, um ins langweilige Heim zu
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