Wolfsinstinkt
brachte Ricky damit zu einem neuerlichen Seufzen.
„Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?“, fragte er Tala gähnend.
„Nein. Ich kann nachher schlafen, wenn wir bei meiner Familie sind.“
Na, vielen Dank auch! Das würde ihm gerade noch fehlen, dass sie bei dem Schamanen ankamen und Tala nichts anderes zu tun hatte, als ihn allein mit den fremden Menschen zu lassen, weil er sich schlafen legte.
Ricky brauchte ein wenig Zeit, um tatsächlich munter genug zu sein. Als Tala ihm allerdings drohte, mit unter die Dusche zu kommen, wenn Ricky sich nicht etwas sputete, war er endgültig wach. Er wollte nicht bei Talas Familie ankommen und nach Sex riechen.
Nach einer heißen Dusche trocknete sich Ricky sorgfältig die Haare und zog sich an. Wenigstens lag in den Wäldern nicht mehr viel Schnee, die Wege waren einigermaßen frei, der Frühling gewann die Oberhand. So würde die Reise nicht ganz so anstrengend werden.
„Wie lange werden wir denn ungefähr unterwegs sein?“, fragte Ricky, als er seinen Mantel schloss und in die Stiefel schlüpfte.
Tala ließ den Kopf nachdenklich von einer Seite auf die andere kippen. „Ich schätze mal, dass wir sicher so zwei oder drei Stunden brauchen werden. Als Wolf brauche ich nicht so lange, aber wir reisen schließlich als Menschen.“
Ricky war dankbar, dass Tala auf seine Wolfsgestalt verzichten wollte. So konnten sie sich wenigstens unterhalten.
Unterwegs stellte Ricky – wie bereits so oft zuvor – fest, dass sich Tala sogar in seiner menschlichen Gestalt wesentlich schneller und viel geschmeidiger bewegte als er. Das war frustrierend und gleichzeitig ein sehr hübscher Blickfang.
Der Weg war zwar lang, trotzdem verging die Zeit wie im Flug. Ehe Ricky sich versah, tauchte mitten im dichtesten Wald eine Siedlung vor ihm auf, wie er sie bislang nicht gesehen hatte. Ein paar Hütten waren im Kreis aufgestellt, die allesamt aus roh behauenen, schlanken Baumstämmen in Blockbauweise zusammengefügt und mit Rauleder in verschiedensten Größen und Farben bespannt waren. Außerdem hingen bunte Holzmasken, die mit typischen naiv wirkenden Indianermustern bemalt waren, an den Wänden. Der Geruch von geräuchertem Fisch waberte durch die Luft und brachte Rickys Magen zum Knurren.
Auf die größte Hütte, die mit rudimentären Zeichen bemalt war, hielt Tala zu. Ricky schlug das Herz im Hals und seine Beine zitterten so sehr, dass er glaubte, die paar Schritte bis zum Eingang nicht mehr zu schaffen. Nach Tala rufen, der fast schon bei der Hütte war, wollte Ricky nicht, weil er befürchtete, sofort als Schwächling eingestuft zu werden.
Als Tala die Hütte erreichte, drehte er sich zu Rickys Erleichterung um und wartete kurz. Nachdem Ricky mit einem nervösen Lächeln aufgeschlossen hatte, klopfte Tala mit der flachen Hand zwei Mal erst gegen Tür, dann gegen das Leder, das den Eingang zusätzlich verdeckte.
Er öffnete gerade den Mund, als aus der Hütte eine kräftige und überaus erfreute Stimme klang: „Tala! Das wurde aber auch Zeit, mein Sohn!“ Das Lederstück wurde zur Seite gezogen, und hervor kam ein Mann, zu dem die Stimme im ersten Moment gar nicht zu passen schien. Er hatte langes graues Haar und war ein ganzes Stück kleiner als Ricky. Sein Gesicht war durchzogen von Lachfalten, die von dem breiten Grinsen verstärkt wurden.
Ricky hatte kaum Zeit, die Fellkleidung zu erkennen, als der Schamane ihnen gleichzeitig um den Hals fiel. Sie wurden nach unten gezogen und so fest gedrückt, dass Ricky ein überraschtes Japsen entfuhr. Diese Kraft hatte er nicht erwartet. An dem alten Mann schien überhaupt nichts Zerbrechliches zu sein. Tatsächlich war sein Äußeres das Einzige, was auf ein hohes Alter hinwies.
„Und du musst Ricky sein!“
Verblüfft starrte Ricky den Mann an und nickte. „Ja, aber woher ...“
Der Schamane lachte vergnügt. „Der Wald redet viel, mein Junge. Man muss nur genau hinhören.“
Einmal mehr hatte Ricky das Gefühl, in einem Paralleluniversum gelandet zu sein. Mit offenem Mund starrte er den alten Mann an, schaute dann verwirrt zu Tala und wieder zu dem Schamanen, wollte etwas sagen, merkte aber, dass ihm die Worte fehlten und er wahrscheinlich gerade einen ziemlich bescheuerten Eindruck machte. Also klappte er den Mund zu und zog eine verlegene Miene.
Der Schamane lachte und winkte sie ins Innere der Hütte.
Ricky betrat nach dem Schamanen und Tala die Behausung und sah sich erst einmal neugierig um. In der Mitte
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