Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
den Spalt, und sie trat hinaus. Sie war gewiss kein Schmetterling, der aus seinem Kokon kroch, aber sie war verwandelt. Sie war Teresa die Leere, aber sie füllte ihre Hülle und gaukelte Leben auf eine Art vor, mit der sie sogar sich selbst überzeugte. Manchmal glaubte sie sogar, dass es echt war.
Sie nahm weiter ihre Medizin, von der sie mittlerweile erfahren hatte, dass sie Fontex hieß und dasselbe war wie Prozac, und ging zur Gesprächstherapie. Sie erinnerte sich jetzt wieder an die alte Teresa, wie sie gewesen war, und sie spielte sie. Und wieder gelang es ihr so glaubwürdig, dass sie manchmal selbst daran glaubte.
Ende Februar, fast zwei Monate nachdem sie eingewiesen worden war, durfte sie wieder nach Hause fahren. Sie saß auf der Rückbank von Görans und Marias Auto und schaute auf ihre Hände. Es waren ihre Hände. Sie saßen an ihr fest und gehörten ihr. Jetzt verstand sie es.
Zwei Wochen bevor sie entlassen wurde, war ihr Lehrer mit einem Stapel Schulbücher zu Besuch gekommen, und Teresa hatte eifrig gearbeitet. Das Lernen war kein Problem, die Texte und mathematischen Formeln flossen nur so in sie hinein und wurden schnell bearbeitet, weil sie nicht mehr von dem Knäuel an Erwartungen und Sorgen behindert wurden, die den fleischlichen Menschen eigen sind. Innerhalb von zwei Wochen hatte sie nachgeholt, was sie verpasst hatte, und noch einiges dazugelernt
Als sie an die Schule zurückkehrte, bewahrten die anderen eine gewisse Distanz zu ihr, was sie als ganz natürlich empfand. Jenny, die sich bald einer weiteren Operation unterziehen musste, um sich die Nase richten zu lassen, begrüßte sie mit einem: »Na, Mongo, bist du wieder zurück aus der Anstalt?«, verstummte aber, als Teresa sie ansah.
Johannes und Agnes hatten sie einen Tag nach dem Lehrer besucht und mieden sie auch in der Schule nicht. In der Pause erzählte Teresa ein bisschen vom Leben in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und von den Problemen, die in einer Abteilung entstehen konnten, wo alle Gegenstände verboten waren, mit denen man sich das Leben nehmen konnte. Kleine Anekdoten.
Während sie redete, betrachtete sie die beiden, und eine innere Stimme sagte: Sie sind so liebenswert. Ich mag sie so sehr. So war es, und gleichzeitig war es doch nicht so, weil sie es sich selbst sagen musste, weil sie eine Tatsache bestätigen musste, von der sie wusste, dass es sie geben sollte, die sie aber nicht fühlte.
Mit Micke war es leichter.
Ein paar Tage nachdem sie zurückgekommen war, streifte sie während einer Pause über den Schulhof, als sie ihn an dem Lagerraum für die Sportgeräte stehen und rauchen sah. Sie ging zu ihm und nahm die Zigarette, die Micke ihr anbot, zog vorsichtig an ihr und konnte es vermeiden, in Husten auszubrechen.
»Wie geht’s?«, fragte Micke. »Bist du jetzt irgendwie irre, so richtig?«
»Ich weiß nicht. Doch, wahrscheinlich schon. Ich schlucke ja Pillen.«
»Meine Alte schluckt auch Tabletten. Viele verschiedene. Kann total ausflippen, wenn sie sie vergisst.«
»Wie ausflippen?«
»Ja, na ja, einmal wurde sie ganz … fing an zu schreien, dass sich ein Schwein im Herd versteckt hat.«
»Ein ganz normales Schwein?«
»Nee, ein gebratenes. Obwohl, da hat es noch gelebt und wollte rauskommen und sie beißen.« Micke schaute Teresa an. »Aber das ist nicht das, was du hast, oder?«
»Weiß nicht. Kommt vielleicht noch, wenn ich weiter dran arbeite.«
Micke lachte, und Teresa fühlte sich … nicht fröhlich, aber ganz und gar unprovoziert . Micke stellte keine Ansprüche. Sogar Agnes und Johannes empfand sie als Bedrohung. Sie erwarteten ein bestimmtes Verhalten von ihr, sie musste sich benehmen. Micke dagegen schien sie viel gelassener zu betrachten, seit sie irre war. Immerhin.
Sie brauchte drei Tage, um sich nach ihrer Entlassung das erste Mal wieder dem Computer zu nähern. Während der langen Zeit in der Abteilung war sie entwöhnt worden. Als sie auf den großen Metallkasten, den Bildschirm und die Tastatur schaute, hatte sie das Gefühl, einen Ansteckungsherd zu betrachten. Wenn sie auf den Powerknopf drückte, würde ihr die Krankheit entgegenschlagen.
Aber Theres. Aber Theres.
Teresa holte tief Luft, setzte sich an den Schreibtisch und hob den Deckel von Pandoras Büchse, ging in ihren Mail-Account. Jede Menge Spam hatte sich während ihrer Abwesenheit angesammelt, und dazwischen eingequetscht lagen fünf, nein sechs Mails von Theres. Die letzte war sechs Wochen alt.
Sie öffnete
Weitere Kostenlose Bücher