Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
ihr. Ganz und gar nicht. Sie würden sie in eine Anstalt stecken. Irgendwo, wo niemand sie für das liebt, wofür wir sie lieben. Für sie wäre sie einfach nur eine … Kranke.«
»Aber was sollen wir dann tun? Früher oder später wird sie durch die Haustür nach draußen gehen, und dann sind unsere Chancen, sie behalten zu dürfen, noch schlechter, als sie es jetzt wären. Was sollen wir tun?«
»Ich weiß nicht, Laila. Ich weiß nicht.«
Es war Lailas Bemerkung über die Haustür, die in Lennart den Gedanken anstieß. Man konnte das ganze Problem so einfach fassen: Das Mädchen durfte nicht zur Haustür hinausgehen. Ihr Haus lag geschützt, und das Risiko, dass sie jemand durchs Fenster sehen konnte, war gering. Außer Jerry besuchte sie niemand.
Falls sie allerdings aus der Tür hinausging, könnte sie weiter die Auffahrt hinunterlaufen. Bis auf die Straße. In den Wald, indie Stadt. Zu anderen Leuten, und die würden die Maschinerie in Gang setzen, die sie ihnen wegnehmen würde.
Lennart dachte sich eine Lösung aus, von der er nicht wusste, ob sie funktionieren würde, aber es war die einzige, die er sah. Ohne Laila ein Wort zu verraten, erfand er eine Geschichte. Als er fertig war, erzählte er sie dem Mädchen.
Die Geschichte ging so: Die Welt war ein Ort, an dem große Menschen wohnten. Menschen wie er selbst, Laila oder Jerry. Vor langer Zeit hatte es dort auch kleine Menschen gegeben. Wie das Mädchen. Wie die Kleine. Aber die großen Menschen hatten alle kleinen Menschen getötet.
Als Lennart sah, dass das Mädchen das Wort »töten« nicht verstanden hatte, ersetzte er es durch »aufessen«. Die großen Menschen hatten die kleinen Menschen aufgegessen.
An diesem Punkt der Geschichte tat das Mädchen etwas, das sehr selten geschah. Es stellte eine Frage. Mit starr auf die Wand gerichtetem Blick fragte es: »Warum?«
Lennart hatte seine Geschichte noch nicht bis ins letzte Detail ausgefeilt, sodass er schnell eine Antwort improvisieren musste. Er sagte, dass es an dem liege, was man im Kopf habe. Fast alle Menschen hätten Hass und Hunger im Kopf. Und dann gebe es solche wie ihn selbst, Laila oder Jerry, die Liebe im Kopf hatten.
Das Mädchen ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, das sie so oft schon gesungen, aber nie wirklich gesprochen hatte: »Liebe.«
»Ja«, sagte Lennart. »Und wenn man Liebe im Kopf hat, dann möchte man die kleinen Menschen lieben und sich um sie kümmern, aber nicht aufessen.«
Er erzählte weiter von den vielen großen Menschen, die er dabei beobachtet habe, wie sie im Garten herumgeschlichen seien und nach kleinen Menschen gesucht hätten, um sie aufzuessen. Ja, es sei so schlimm, dass das Mädchen, falls es vor die Tür ging, vermutlich nicht einmal genug Zeit hätte, ein Lied zu Ende zu singen, bevor ein großer Mensch sie finden und aufessen würde.
Das Mädchen schaute besorgt zum Fenster hinüber, und Lennart streichelte ihr beruhigend den Rücken.
»Solange du im Haus bleibst, besteht keine Gefahr. Verstehst du? Du musst im Haus bleiben. Nicht vor dem Fenster stehen und nach draußen gucken und auf gar keinen Fall, niemals , niemals durch die große Tür nach draußen gehen. Verstehst du das, Kleine?«
Das Mädchen war in eine Ecke des Betts gekrochen und schaute zusammengekauert und mit ängstlichem Blick weiter zum Fenster hinüber. Lennart fragte sich langsam, ob er vielleicht nicht zu viel Erfolg mit seiner Geschichte gehabt hatte. Er nahm ihre nackten Füße in seine Hände und massierte sie mit dem Daumen.
»Wir passen auf dich auf, Kleine. Du musst keine Angst haben. Dir wird nichts passieren.«
Als Lennart das Mädchen eine Weile später verließ, verzieh er sich selbst dafür, dass er diese schreckliche Geschichte erzählt hatte. Zum einen, weil sie notwendig war, und zum anderen, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthielt. Er war davon überzeugt, dass die Welt da draußen sie tatsächlich auffressen würde, wenn auch nicht ganz so brutal, wie er es ausgemalt hatte.
Sosehr Lennart sich selbst auch verzieh, seine Geschichte hatte eine starke Wirkung auf das Mädchen. Sie wagte sich nicht einmal mehr aus ihrem Zimmer und verlangte, dass das Fenster verhängt würde, damit die großen Menschen sie nicht entdecken konnten. Eines Tages, als Laila in das Zimmer kam, hielt das Mädchen ein Schnitzmesser in der Hand, das sie aus dem Werkzeugkeller geholt hatte, und richtete es drohend auf die Decke, die vor dem Fenster hing.
Laila wusste nicht,
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