Wolfskuss - Handeland, L: Wolfskuss
den Kopf.
„Gibt es keine weniger blutige Methode?“
„Mir ist keine bekannt.“
Ich war ratlos. Einerseits wollte ich Wills Arm verbinden, andererseits konnte ich Mandenauer nicht allein lassen. Ich konnte auch nicht all die Waffen selbst bewachen. Genauso wenig konnte ich mich dazu überwinden, auf Clyde zu schießen und dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Ein vielstimmiges Heulen erscholl auf dem Hof. Weitere Wölfe fielen ein, wurden lauter und lauter, bis ich mir die Hände auf die Ohren legen wollte, um den Lärm auszublenden. Aber auch das konnte ich nicht.
Endlich erstarb das Höllenspektakel. In der anschließenden Stille schien ihr Heulen noch immer nachzuhallen.
„Wie viele sind da draußen?“, flüsterte ich.
„Bei meiner Ankunft waren es mehr als siebzig“, antwortete Mandenauer. „Inzwischen dürften es weit über hundert sein.“
„Das ist unmöglich.“
„Es ist eine Werwolf-Armee. Haben Sie das nicht verstanden, Jessie?“
Ich ließ Mandenauers Waffen auf die Couch fallen, steckte meine Pistole ins Holster und ging mit ihm zum Vorderfenster. Wir starrten auf etwas, das ein Meer von Wölfen zu sein schien.
„Was wollen sie hier?“
„Das.“
Die Stimme gehörte nicht Mandenauer; sie gehörte Clyde. Ich drehte mich genau in dem Moment zu ihm um, als er die Haustür öffnete.
„Nein!“, brüllte ich, aber die Wölfe griffen nicht an. Stattdessen blieben sie gefügig wie Hunde mit heraushängenden Zungen sitzen.
Ich ließ Mandenauer los und rannte zur Tür, aber es war zu spät. Clyde warf das Totem hoch über die versammelten Wölfe. Sämtliche Köpfe schossen nach oben, dann senkten sie sich zusammen mit dem Stein wieder nach unten.
Bevor er zu Boden fallen konnte, sprang eine kleine, aschblonde Wölfin in die Luft und fing das Lederband zwischen ihren Zähnen auf. Sie rannte los, und die anderen folgten ihr.
Ich konnte nichts weiter tun, als Clyde anzustarren. Sein Gesicht wurde vom silbernen Licht des aufgehenden Mondes überflutet, und er begann zu schwitzen und zu zittern.
Sich zu verwandeln.
38
Ich hätte die Tür zuschlagen sollen, aber ich konnte nicht. Stattdessen blieb ich wie angewurzelt in der Diele stehen, unfähig, die Augen von dem Anblick, der sich mir bot, abzuwenden.
Clydes Körper verzerrte sich; seine Schultern sackten zusammen; seine Beine krümmten sich. Er warf den Kopf zurück und heulte. Das Geräusch jagte mir einen eisigen Schauder über den Rücken. Die Wölfe im Wald unterbrachen ihre Flucht, um zu antworten.
Seine Kleidung platzte mit dem grellen Knirschen zerreißenden Stoffs und berstender Nähte auf. Seine Schuhe schienen zu explodieren, dann schossen Pfoten aus ihnen hervor. Er fiel auf alle viere, und die Hände, mit denen er sich abfing, hatten Krallen.
Schwarze Haare sprossen aus jeder Pore, verdichteten und verlängerten sich, wurden zu Fell. Ein Schwanz brach aus seiner Wirbelsäule hervor. Das Letzte, das sich verwandelte, war sein Kopf.
Ich spürte eine Bewegung hinter mir, war jedoch unfähig, mich umzudrehen. Ich wappnete mich innerlich, da ich erwartete, dass Mandenauer schießen würde. Aber das tat er nicht. Seltsam, er hatte noch nie zuvor gezögert.
Das Knacken von Knochen, das Dehnen von Haut verursachten schreckliche Geräusche. Entsetzt sah ich zu, wie Clyde seine Verwandlung vollendete.
Sein Mund und seine Nase dehnten sich, verwuchsen zu einer Schnauze. Seine Zähne wurden länger, seine Zunge ebenfalls; sie hing ihm nun aus dem Mundwinkel. Seine Stirn wölbte sich. Als er seinen Kopf in unsere Richtung schwang, war sein Gesicht das eines gehäuteten Wolfs mit Clydes Augen.
Widerwärtig. Ich wünschte mir, Fell würde diesen Kopf bedecken. Mein Wunsch wurde bald erfüllt.
Schwarzes Haar wucherte über sein Gesicht und verdeckte die Knochen, die seine zimtbraune Haut deformierten. Er schüttelte sich, als wäre er gerade aus dem Wasser gekommen, dann drehte er sich zu mir.
Ich keuchte auf. Clyde war der schwarze Wolf, der jeden meiner Schritte beobachtet und mich in meinen Träumen verfolgt hatte. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wolf, der Karen Larson und zahllose andere gebissen hatte.
Als der Schuss ertönte, schrie ich auf, stürzte zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht. Meine Ohren klingelten, trotzdem konnte ich Clyde kreischen hören. Ich wollte nicht hinsehen, aber ich musste.
Flammen züngelten aus einem sauberen Einschussloch neben seinem Herzen. Der Geruch nach versengtem Haar und
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