Wolfslegende
- daß er aus seiner Sicht länger oder kürzer unterwegs gewesen war?
Letztlich spielte es keine Rolle.
»Hast du etwas . herausfinden können?« Der Arapaho-Vampir war in Storms Abwesenheit hin und her gewandert, nun stand er wieder still und aufs höchste angespannt.
»Das habe ich.« Die Mimik des Schamanen, der mit überkreuzten Beinen dasaß, als hätte er sich nie auch nur einen Schritt weit entfernt, gab Hidden Moon keinen Anhaltspunkt über die Art der Entdeckung, die er gemacht hatte.
»Dann sag es mir!«
»Das würde ich - wenn ich es selbst verstanden hätte.«
»Du hast es nicht verstanden?«
»Nein.«
Wyando beugte sich nach vorn und nötigte Esben Storm förmlich, sich zu erheben und ihm Auge in Auge gegenüberzustehen. »Was ist das? Eine billige Ausrede, weil du mir gar nicht sagen willst, was du drüben gesehen hast?«
Ein nachsichtiger, fast mitleidsvoller Ausdruck fiel wie ein Schatten über Esben Storms Gesicht, der keinen Versuch unternahm, die Berührung seines Gegenübers abzustreifen. »Ich sah«, sagte er, »einen Anfang.«
»Was meinst du mit Anfang?«
Hidden Moon war drauf und dran, sich umzudrehen, ins Sanktuarium zurückzukehren und Esben Storm nie wieder mit einer Bitte wie dieser zu belästigen. Im Grunde war der Versuch, Niemandes Freund um einen Gefallen zu bitten, schon gescheitert gewesen, bevor Wyando seine Bitte überhaupt formuliert hatte.
»Den Anfang von etwas, was ich nur einmal, und da auch nur ähnlich, sah«, fuhr Esben Storm stoisch ruhig fort.
»Wann und wo war das?«
»Als die Schöpferwesen auf dem Grund und Boden von Liliths Edens magischem Geburtshaus entarteten.«
Verblüfft und am Ende seiner Geduld starrte Wyando den Eingeborenen an. »Darüber weiß ich nichts ... Ich will wissen, was du gesehen hast!«
Esben Storm blickte zu ihm auf. »Ich sah, daß der Flaum entartet ist. Seine Wurzeln halten ihn nicht nur unmittelbar unter der Hautoberfläche fest, sondern .«
»Sondern?«
»Sie dringen tief in deinen Körper ein. In dein Rückenmark und von dort aus noch weiter. Nach oben.«
»Wie weit - nach oben?« Der Arapaho schluckte. Zugleich beschlich ihn eine nie dagewesene dumpfe Furcht. Und in seine Züge brannte sich ein Ausdruck, der sagte: Hätte ich nur nie gefragt! Ich hätte es auf sich beruhen lassen sollen .
»Bis in dein Gehirn«, sagte Oodgeroo Noonuccal.
Wyandos Hand fuhr in den Nacken. Seine Finger gruben sich in den zarten weißen Flaum und formten eine Faust.
Einen Augenblick war er versucht, sich das Büschel mit Brachialgewalt herauszureißen.
Nur der Gedanke an das, was er noch - und ungewollt - mit herausreißen könnte, von ganz weit oben, ließ ihn die Faust wieder öffnen. Er beschloß, Makootemane aufzusuchen. Auch Makootemane trug dieses Stigma, das der innigen Verbindung der Arapaho-Vam-pire mit ihren Seelentieren, den Adlern, entsprossen war.
»Kannst und willst du mir mehr darüber sagen?« fragte er Esben Storm mit bebender Stimme.
»Nein«, lautete die unbefriedigende Antwort.
»Kannst du oder willst du nicht?«
Esben Storm lächelte ein Lächeln, das Wyando für einen kurzen Moment noch größeres Grauen einflößte als die Frage, was in ihm zu wachsen begonnen, und was Storni einen Anfang genannt hatte.
Den Anfang wovon ...?
*
Die Nacht war vergangen, ohne daß Jeb Holskis Haus ein Besuch abgestattet worden wäre. Nona begann daran zu glauben, daß das Verschwinden von Calebs Onkel für sie selbst folgenlos bleiben würde.
Nachdenklich schaute sie auf den jungen Juden, der mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und den Anschein zu erwecken versuchte, daß er noch schlafe. Doch vor ein paar Minuten hatte sich seine Atemfrequenz verändert, lag er stocksteif da, und Nona, die es gelernt hatte, auf Kleinigkeiten zu achten, war überzeugt, daß er nach knapp drei Stunden wieder aus unruhigen Träumen aufgewacht war.
Beim Gemüseladen hatte sich seit Jeb Holskis und dem Verschwinden einer Unbekannten nichts mehr getan. Die ganze Nacht hindurch hatte kein noch so schwacher Lichtschimmer verraten, daß sich zwei Ungeheuer darin eingenistet hatten.
Ungeheuer .
In Anbetracht der eigenen Übeltaten hätte Nona die Verwendung solcher Bezeichnungen eigentlich scheuen müssen. Daß sie es nicht tat, bewies nur, wie vielschichtig ihre Moral- und Wertvorstellungen waren. Ein Mensch ohne »Leichen im Keller« hätte dies nicht verstanden, und der Einzige, der sich je in ihr facettenreiches Ich hatte hineinversetzen
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