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Wolfslied Roman

Wolfslied Roman

Titel: Wolfslied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alisa Sheckley
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dem Autounfall unter Schock stand?
    Nein, ich wusste, dass es keine Halluzination gewesen sein konnte. »Du bist ein Werwolf«, hatte meine Mutter zu mir gesagt. »Glaubst du denn nicht an Übernatürliches?«
    Doch, jetzt glaubte ich daran. Auf jeden Fall glaubte ich an die Existenz von Manitus.
    Ich kroch zu meiner Tasche, die einen Meter von mir entfernt lag, und versuchte nicht an den Zustand meines Beins zu denken. Mein rechter Fuß fühlte sich seltsam lose und zerbrechlich an. Für kurze Zeit brach ich fast in Panik aus, als ich mein Handy nicht finden konnte. Doch dann ertasteten meine Finger das glatte Metall.
    »Siehst du, alles wird gut«, murmelte ich mir zu, um mir Mut zu machen. »Hilfe ist schon fast im Anmarsch.« Ich klappte das Handy auf, wobei mir Tränen des Selbstmitleids über die Wangen flossen.
    Kein Empfang.
    Verdammt.
    Ich stellte mir bereits die Nachricht über meinen frühen Tod vor: Während die junge Frau sterbend im Wald lag, fuhren ganz in der Nähe Menschen vorbei, die ihre Hilfeschreie jedoch nicht hörten …
    Jetzt nur nicht die Ruhe verlieren. Kriech zum Wagen zurück.
    Das würde bestimmt eine bessere Story abgeben: Die furchtlose junge Frau, deren Fuß mehrfach gebrochen war, schaffte es dennoch ohne Hilfe nach Hause …
    Was allerdings nur möglich war, wenn es mir gelang, unter dem aufgegangenen Airbag auch das Gaspedal zu finden.
    Ich versuchte mich zu orientieren, was mir ohne Brille allerdings
ziemlich schwerfiel. Trotzdem kam es mir so vor, als wären die Bäume auf einmal dicker und älter und stünden dichter aneinander als zuvor. Mühsam kroch ich zu der Stelle zurück, wo ich vorhin aus dem Wagen gestiegen war. Aber mein Wagen war nicht mehr da! Und die Straße ebenso wenig! Stattdessen gab es dort jetzt einen Hügel, nicht höher als drei Meter und etwa zehn Meter breit.
    Also gut. Ich musste wohl die Orientierung verloren haben - und war offenbar in die falsche Richtung gelaufen. Wenn ich auf den Hügel hinaufkriechen würde, fände ich bestimmt heraus, wo ich mich befand. Natürlich nur, wenn ich auch ohne Brille etwas erkennen konnte.
    Hör mit dem Grübeln auf. Tu es doch einfach.
    Verzweifelt kämpfte ich gegen die Schmerzen und die Erschöpfung an. Ich versuchte nicht daran zu denken, was ich gerade meinem Fuß antat, sondern fing an, mich den Hügel hinaufzuziehen. Der Boden unter meinen Händen fühlte sich ungewöhnlich glatt und ebenmäßig an.
    Das ist kein gewöhnlicher Hügel, dachte ich - das ist eine Grabstätte. Eine Grabstätte, wie sie Indianer für ihre Verstorbenen anlegten.
    Schwitzend und keuchend und mit einem schmerzhaft pochenden Bein erreichte ich endlich den Gipfel. Ich brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen und mich aufrecht hinzusetzen. Als es mir schließlich gelang, verfiel ich in ein verzweifeltes Wimmern. Die Straße hätte eigentlich nicht mehr als ein paar Meter entfernt sein dürfen, doch ich konnte sie nirgendwo entdecken.
    Stattdessen fand ich mich mitten in einem riesigen urzeitlichen Wald wieder, in dem gewaltige Eichen, Kastanien und Ulmen standen, deren kahle Äste wie Skelettarme
ineinandergriffen. Während ich noch hinsah, knospten die Bäume, blühten schon und entwickelten Blätter. Ein plötzlicher, unnatürlich wirkender Frühling erfüllte die Luft mit einer alles durchdringenden Lieblichkeit, die fast unerträglich war.
    Ich erkannte zwar die Kastanienbäume als solche, aber soweit ich wusste, hatte es in diesem Teil des Landes seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts keine Riesenkastanien mehr gegeben. In diesem Wald ragte jedoch ein Turm von einem Kastanienbaum in die Höhe, der mindestens achtzig Meter hoch sein und einen Stammdurchmesser von bestimmt einem Meter haben musste. Seine länglichen hellgrünen Blätter waren so sehr von weißen Blütenständen durchsetzt, dass der ganze Baum wie die Erscheinung aus einem Märchen aussah.
    Vielleicht befand ich mich ja tatsächlich in einem Märchen? Man hatte mir in der Schule beigebracht, dass diese Bäume in unserer Region ausgestorben waren. Ebenso wie die großen Ulmen, die jetzt überall um mich herum wucherten. Die Kastanien waren im vergangenen Jahrhundert durch eine Krankheit aus Asien und die Ulmen durch das sogenannte Ulmensterben eingegangen. Vor langer Zeit hatten sich die Tiere des Waldes großenteils von Kastanien ernährt. Auch die Indianer und die Kolonialisten hatte die süßlich mehlige Frucht des Baumes vor dem Verhungern

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