Wolfsmagie (German Edition)
ab, als Kris den Pullover beiseiteschleuderte und sich an ihrer Hose zu schaffen machte.
»Nein«, wiederholte Liam, seine Augen den Himmel fixierend. »Warte ab.«
Sie guckte mit zusammengekniffenen Brauen nach oben. »Warte was ab?«
Liam hatte nicht gewollt, dass sie es so erfuhr. Er hätte es vorgezogen, ihr die Wahrheit nicht auf eine solch schockierende Weise zu enthüllen. Doch es blieb ihm keine andere Wahl.
Er sprintete zum Wasser und stieß sich mit den Füßen vom Ufer ab, als im selben Moment die Sonne am Horizont erglühte.
Und er sich verwandelte.
Liam setzte als ein Mann zu seinem Sprung an, bevor er in einem schier endlos wirkenden Sturzflug als etwas anderes nach unten tauchte.
Graue, seehundartige Haut, ein langer Hals, ein sogar noch längerer Schwanz und ein massiger Körper. Mit einem dumpfen Klatschen kam er auf dem Wasser auf, und die Gischt, die er dabei erzeugte, wurde zu einem Geysir, der Kris vom Kopf bis zu den Oberschenkeln durchnässte.
Sie taumelte nicht zurück, sondern blieb, wo sie war, den Blick unverwandt auf die Kreatur gerichtet, die durch den Loch Ness auf die noch immer um ihr Überleben kämpfende, nun jedoch nicht mehr schreiende Frau zuschoss. Die Arme wirkte so erschöpft, dass sie kaum noch zu leben schien. Ohne Hilfe würde sie bald untergehen.
»Er ist Nessie«, wisperte Kris mit Lippen, die sich wie Wachs anfühlten.
Sie hatte es geahnt, oder nicht? Sie hatte sich auf die Suche nach Liam begeben, um ihn dazu zu zwingen, es zu gestehen. Trotzdem stand sie starrend und schlotternd hier, während ihr Verstand die verrücktesten Kapriolen schlug, um zu leugnen, was ihre Augen glasklar sahen. Die Fähigkeit des menschlichen Verstands, rationale Rechtfertigungen zusammenzubasteln, erstaunte sie immer wieder.
Nessie – nein, Liam – war im Nu bei der Frau. Kris erinnerte sich an Berichte über das Seeungeheuer, in denen diesem trotz seiner gewaltigen Masse eine unglaubliche Schnelligkeit nachgesagt wurde. Was war sonst noch über es – besser gesagt über ihn – berichtet worden, das der Wahrheit entsprach?
Das Wesen ließ sich wie ein Stein unter die Oberfläche sinken, tauchte einfach so ab – eine Unmöglichkeit, über die ebenfalls schon berichtet worden war. Allerdings schien der Sog, die der gewaltige Körper dabei erzeugte, die Frau mit nach unten zu ziehen. Kris stieß einen Schrei aus, als sie außer Sicht geriet.
Hatte sie sich geirrt? Hatte Nessie … Kris fluchte. Hatte Liam die Frau in die Tiefe gezogen? Wurde er wirklich zu einem Ungeheuer, sobald er sich in eines verwandelt hatte? Aber wenn das der Fall wäre, warum hatte er sie dann gerettet?
Wenige Sekunden später tauchte das Ungetüm wieder auf. Die Frau, die offensichtlich vollkommen erschöpft und einer Ohnmacht nahe war, klammerte sich an seinem Rücken fest. Die Kreatur, die Liam war, nahm langsam Kurs auf Kris und trieb ihr entgegen.
Kris’ Blicke suchten die Umgebung ab. War diese Frau ein weiteres Opfer des Serientäters? Oder war sie einfach in den See gefallen und hatte es nicht allein herausgeschafft?
Letzteres schien zu weit hergeholt. Wie tollpatschig müsste man sein, um am Ufer zu stolpern, ins Wasser zu stürzen und um sich zu dreschen, bis man zu weit draußen war, um es allein zurückzuschaffen, und dann zu einer Uhrzeit – die Nacht war kaum vorüber – um Hilfe zu rufen, wo wenig Chance bestand, sie zu bekommen?
Die ganze Situation stank schlimmer als der älteste Lachs im Loch Ness.
Alle Fragen wurden hintangestellt, als Liam die Uferzone erreichte. Anstatt die Frau von seinem Rücken gleiten zu lassen und sie in Richtung Strand zu schubsen, wie er es beim letzten Mal getan hatte, zog er sich tatsächlich selbst an Land.
Er war kolossal. Der Körperumfang eines Elefanten vereinte sich mit einem muränenähnlichen Hals und dem Kopf einer Königsboa. Als Kris auf ihn zuging, um die Frau in Empfang zu nehmen, fühlte sie sich gehemmt, gleichermaßen verängstigt wie befangen. Diese Kreatur, Liam, existierte seit Jahrhunderten. All die Dinge, die er gesehen und getan hatte, die Leute, denen er begegnet war, sein immenses Wissen … sie konnte es einfach nicht fassen. So wie auch die Tatsache, dass sie dieses Wesen in seiner menschlichen Gestalt geküsst und berührt – gesteh es dir ruhig ein, Kris, sogar geliebt hatte –, momentan ihr Vorstellungsvermögen überstieg.
Etwas, das ihre Gefühle, ihre Reaktionen betraf, wollte sich in ihr Bewusstsein drängen, und
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