Wolfsmagie (German Edition)
hätte Kris Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte sie sie sich womöglich genommen. Aber als sie sich neben die Frau in das morastige, feuchte Gras kniete, verflüchtigte sich jeder Gedanke bis auf einen.
»Sie atmet nicht.«
Kris hatte ein Reanimationstraining absolviert, aber das lag eine ganze Weile zurück, und sie hatte es nie in die Praxis umsetzen müssen. Trotzdem stellte sie fest, dass ihr die einzelnen Schritte wieder einfielen.
Kontrollieren, ob die Luftröhre frei ist. Den Kopf nach hinten beugen. Die Nase verschließen. Den Mund auflegen und ausatmen, den Mund lösen, einatmen, dann noch einmal Mund auf Mund ausatmen. Feststellen, ob sie wieder selbständig zu atmen begonnen hat.
Nein. Verdammt!
Herzdruckmassage. Eins und zwei und drei …
Kris zählte bis dreißig, beatmete die Frau zwei weitere Male, dann wieder Herzdruckmassage. Als sie irgendwann daran dachte, sich nach Nessie umzusehen, war das Ungeheuer verschwunden.
Die Frau machte plötzlich einen tiefen, keuchenden Atemzug und begann zu würgen. Kris drehte sie auf die Seite, und Seewasser strömte wie ein Fluss aus ihr.
»Wa… was …?«
Kris rollte sie wieder flach auf den Rücken; der Untergrund war kalt und nass, aber mehr hatten sie nicht zur Verfügung. Beide zitterten so heftig, dass es ein Wunder war, dass sich keine Zähne lockerten. Kris hätte der Frau ihren Pullover gegeben, aber der lag im Matsch und war so klatschnass wie ihre Haare.
»Bleiben Sie still liegen«, bat Kris die Frau. »Sie wären beinahe ertrunken.«
»Ich …« Sie hob die Hand an ihren Kopf und verzog gequält das Gesicht. »Jemand hat mich geschlagen.«
»Das scheint gerade um sich zu greifen«, murmelte Kris.
Sie sah zur Straße, in der Hoffnung, es könnte zufällig ein Auto vorbeikommen. Die Sonne schien, trotzdem war es noch früh.
»Dann wurde ich verschleppt, aber es war dunkel, und ich konnte nichts sehen.«
Auch das klang vertraut.
»Plötzlich fand ich mich im Wasser wieder, und es war so kalt und so tief, und wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht ans Ufer gelangen.«
Kris erinnerte sich, dieselben Eindrücke gehabt zu haben, als sie im Loch Ness getrieben hatte, bevor …
»Nessie kam«, wisperte die Frau. »Haben Sie sie gesehen?«
Das Lügen fiel tatsächlich leichter, je öfter man sich darin versuchte. Kris hatte überhaupt keine Hemmung, der Frau ins Gesicht zu sehen und zu sagen: »Nein.«
Kris befürchtete schon, die arme, zitternde, mal wache, dann wieder bewusstlose Frau allein im Morast liegen lassen zu müssen, während sie Hilfe holte, als gleich der sprichwörtlichen Kavallerie Alan Mac und seine gesamte Mannschaft anrückten.
Nachdem er Kris mit dem ihr mittlerweile vertrauten Sie-schon-wieder-Blick bedacht hatte, übernahm der Polizeichef das Kommando. Die Frau brabbelte von Nessie, was jedoch niemanden zu verwundern schien. Alle machten sich an die Arbeit, indem sie das Opfer versorgten, den Tatort sicherten und die Frau schließlich abtransportierten.
Zum Glück hatten die Sanitäter Decken dabei. Kris schnappte sich zwei und wollte sich schon verdrücken, als Alan Mac neben ihr auftauchte und ihren Arm festhielt. »Was ist passiert?«
»Woher wussten Sie, dass Sie hier gebraucht werden? Und ihre Leute …« Sie nickte zu seiner Kavallerie. »… mitbringen müssen?«
Er gab keine Antwort.
Kris musterte sein Gesicht, und da wusste sie Bescheid. Irgendwie hatte Liam sich mit ihm in Verbindung gesetzt. Vielleicht konnte er sich ja ganz nach Belieben verwandeln, allerdings stellte sich dann die Frage, warum …
Kris blinzelte zu der höher kriechenden Sonne. Warum hatte er gesagt: »Warte es ab«? Warum war er nicht sofort in den See gesprungen, um die Frau zu retten?
Weil er es nicht gekonnt hatte. Aber wie hatte er Alan Mac dann so schnell hierher beordert? War Liam am Ende ein sprechendes Seeungeheuer?
Kris machte ein ersticktes Geräusch. Das Ganze war entsetzlich absurd. Und trotzdem real.
Sie erwog, Alan Mac damit zu konfrontieren, dass sie ihn für einen Wächter hielt, nur war das vermutlich keine gute Idee. Er beschützte Nessie, beschützte sie – ihn – schon Gott allein wusste, wie lange. Was, wenn das Beschützen des Ungeheuers damit einherging, sicherzustellen, dass jeder, der seiner Verwandlung zugesehen hatte, dies nie wieder tun würde und auch sonst nichts?
Kris dachte über den Polizeichef nach. Traute sie ihm wirklich zu, dass er sie in die Tiefe stürzen würde, um Liams
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