Wolfsmale
eindeutiger war als je zuvor. Und sie würde auch ungestraft
davonkommen. Aber es würde gefährlich sein. Die Polizei suchte immer noch fieberhaft. Es war kaum
Zeit verstrichen. Die Menschen waren vorsichtig. Wenn sie jetzt tötete, würde sie ihr
Verhaltensmuster, das keiner Struktur folgte, brechen, und das würde der Polizei möglicherweise
einen Hinweis geben, den sie nicht voraussehen konnte.
Es gab nur eine Lösung. Es war zwar falsch; sie wusste, dass es falsch war. Das war nicht mal
ihre Wohnung, nicht im eigentlichen Sinne. Aber sie tat es trotzdem. Sie schloss die Tür auf und
betrat die Galerie. Dort lag, gefesselt auf dem Fußboden, ihr jüngstes Opfer. Dieses würde sie
eine Weile behalten, damit die Polizei es nicht fand. Als sie es genauer betrachtete, wurde ihr
bewusst, dass sie nun mehr Zeit mit dem Opfer haben würde, mehr Zeit, um mit ihm zu spielen. Ja,
behalten war die Lösung.
Diese Höhle war die Lösung. Keine Angst, entdeckt zu werden. Das hier war schließlich ein
privater Ort, kein öffentlicher. Keine Angst. Sie ging um den Körper herum und genoss seine
stumme Reglosigkeit. Dann hielt sie die Kamera an ihr Auge.
»Lächeln bitte«, sagt sie und lässt den ganzen Film durchklicken. Dann hat sie eine Idee. Sie
legt eine weitere Filmkassette ein und fotografiert eines der Gemälde, eine Landschaft. Sie wird
es zerschneiden, sobald sie genug mit ihrem neuen Spielzeug gespielt hat. Doch nun hat sie einen
Beleg davon. Einen permanenten Beleg. Sie beobachtet, wie sich das Foto entwickelt, doch dann
beginnt sie, über die Platte zu kratzen, verschmiert die Farben, bis das Bild immer unschärfer
wird und schließlich nur noch aus scheinbar formlosen Wirbeln besteht. Gott, ihre Mutter wäre
stinksauer gewesen.
»Miststück«, sagt sie und wendet sich von der Wand mit den Bildern ab.
Ihr Gesicht ist vor Zorn und Empörung verzerrt. Sie nimmt eine Schere und geht wieder zu ihrem
Spielzeug, kniet sich davor, nimmt den Kopf fest in die Hand und führt die Schere zum Gesicht,
bis sie nur noch einen Zentimeter über der Nase schwebt. »Miststück«, sagt sie erneut, dann
schneidet sie vorsichtig an den Nasenlöchern herum; ihre Hand zittert.
»Lange Nasenhaare«, sagt sie mit jammernder Stimme, »sind so unschön. So unschön.«
Schließlich steht sie wieder auf, geht zu der gegenüberliegenden Wand, nimmt eine Spraydose und
schüttelt sie geräuschvoll. Diese Wand - sie nennt sie ihre dionysische Wand - ist mit Slogans in
schwarzer Schrift besprüht: TOD DER KUNST, TÖTEN IST KUNST, DAS GESETZ IST FÜR DEN ARSCH, SCHEISS
AUF DIE REICHEN, FÜHLT MIT DEN ARMEN. Sie überlegt, was sie noch schreiben könnte, etwas, das den
immer knapper werdenden Platz verdient hätte. Sie sprüht mit einer schwungvollen Bewegung.
»Das ist Kunst«, sagt sie und blickt nach hinten zu der apollinischen Wand mit den gerahmten
Bildern. »Das ist beschissene Kunst. Das ist Scheißkunst.« Sie sieht, dass die Augen ihrer Puppe
offen sind, und wirft sich auf den Boden, sodass sie nur noch wenige Zentimeter von diesen Augen
entfernt ist, die plötzlich zugekniffen werden. Vorsichtig öffnet sie mit beiden Händen die
Augenlider. Die Gesichter sind jetzt dicht beieinander, so intim. Dieser Moment ist immer so
intim. Ihr Atem geht schnell. Ebenso der der Puppe. Der Mund der Puppe kämpft gegen das Klebeband
an, das ihn geschlossen hält. Die Nasenlöcher sind weit aufgerissen.
»Scheißkunst«, faucht sie die Puppe an. »Das ist Scheißkunst.« Jetzt hat sie wieder die Schere in
der Hand und schiebt eine Klinge in das linke Nasenloch der Puppe. »Lange Nasenhaare, Johnny,
sind so unschön bei einem Mann. So unschön bei einem Mann.« Sie hält inne, als ob sie auf etwas
lausche, als ob sie über diese Behauptung nachdenke. Dann nickt sie.
»Wie wahr«, sagt sie jetzt lächelnd.
»Wie wahr.«
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Einen Happen essen
Das Telefon weckte Rebus. Einen Augenblick lang konnte er es nicht finden, dann stellte er
fest, dass es rechts vom Kopfteil an der Wand angebracht war. Er richtete sich auf und fummelte
an dem Hörer herum.
»Hallo?«
»Inspector Rebus?« Die Stimme war voller Tatendrang. Er erkannte sie nicht, nahm seine
Longines-Uhr (eigentlich war es die Longines seines Vaters) vom Nachttisch, starrte durch das
übel verkratzte Schutzglas und stellte fest, dass es Viertel nach sieben war. »Hab ich Sie
geweckt? Das tut mir Leid. Hier ist Lisa Frazer.«
Rebus erwachte zum Leben. Oder zumindest
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