Wolfsmale
das ein Superintendent
oder Chief Constable nie geschafft hätte, und das wusste er. »Guten Tag, die Herren«, sagte er,
bereits zum Gehen gewandt, »und viel Glück, Inspector Rebus.«
»Danke«, rief Rebus der davonschreitenden Gestalt hinterher.
Flight beobachtete, wie Chambers die Tür des Gerichtssaals aufstieß.
Der Zopf seiner Perücke schaukelte von einer Seite zur anderen, und seine Robe wehte hinter ihm
her. Als die Tür wieder geschlossen wurde, fing Flight laut an zu lachen.
»So ein arrogantes Arschloch. Aber er ist der Beste, den's gibt.«
Rebus fragte sich allmählich, ob es in London überhaupt irgendjemanden gab, der zweitrangig war.
Man hatte ihm den »Top«-Pathologen vorgestellt, den »besten« Staatsanwalt, das
»erstklassigste«
Team von Kriminaltechnikern und die »hervorragendsten« Polizeitaucher.
Hatte das etwas mit der der Stadt eigentümlichen Arroganz zu tun?
»Ich hab gedacht, die besten Anwälte gingen heutzutage alle in die Wirtschaft«, sagte
Rebus.
»Nicht unbedingt. Nur die wirklich raffgierigen Typen stürzen sich auf die Jobs in der City.
Außerdem ist das hier für Chambers und seinesgleichen wie eine Droge. Die sind Schauspieler, und
zwar verdammt gute.«
Ja, Rebus hatte in seiner Laufbahn auch schon einige Oscar-verdächtige Anwälte erlebt, und er
hatte ein paar Fälle eher aufgrund ihrer rhetorischen Fähigkeiten als aufgrund der
Überzeugungskraft ihrer Argumente verloren.
Sie mochten zwar nur ein Viertel dessen verdienen, was ihre Kollegen in der Wirtschaft absahnten,
mochten gerade mal fünfzigtausend Pfund im Jahr mit nach Hause bringen, aber das nahmen sie ihrem
Publikum zuliebe in Kauf.
Flight ging auf die Tür zu. »Was noch hinzukommt«, sagte er, »Chambers hat einige Zeit in den USA
studiert. Da drüben bildet man sie zu Schauspielern aus. Man bringt ihnen außerdem bei, knallhart
zu sein. Ich hab gehört, dass er der Beste aus seinem Jahrgang war. Deshalb sind wir froh, ihn
auf unserer Seite zu haben.« Flight hielt inne. »Möchten Sie immer noch mit Tommy reden?« Rebus
zuckte die Achseln. »Warum nicht?«
Draußen in der Eingangshalle stand Tommy Watkiss an einem der großen Fenster, rauchte genüsslich
eine Zigarette und hörte seinem Anwalt zu. Dann setzten sich die beiden Männer in Bewegung.
»Wissen Sie, was«, sagte Rebus. »Ich hab es mir anders überlegt. Wir lassen das mit Watkiss erst
mal.«
»Okay«, sagte Flight. »Schließlich sind Sie der Experte.« Als er Rebus'
säuerliche Miene sah, lachte er. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte er. »Ich weiß,
dass Sie kein Experte sind.«
»Das ist sehr beruhigend, George«, erwiderte Rebus ohne große Überzeugung. Er starrte hinter
Watkiss her und dachte: Ich bin nicht der Einzige, der das Gerichtsgebäude mit gemischten
Gefühlen verlässt.
Flight lachte wieder, dabei hätte er nur zu gerne gewusst, was hinter Rebus' merkwürdigem
Verhalten vorhin gesteckt haben mochte, einfach so in den Gerichtssaal zu gehen und zur
Zuschauergalerie hinaufzuschauen.
Doch wenn Rebus nicht darüber reden wollte, dann war das sein gutes Recht. Flight würde den
richtigen Augenblick abwarten. »Also, was jetzt?«, fragte er.
Rebus rieb sich den Kiefer. »Mein Zahnarzttermin«, sagte er.
Anthony Morrison, der darauf bestand, dass sie ihn Tony nannten, war viel jünger, als Rebus
erwartet hatte. Höchstens fünfunddreißig. Er hatte einen so schmächtigen Körper, dass sein Kopf
irgendwie erwachsener wirkte als der Rest von ihm. Rebus war bewusst, dass er Morrison mit mehr
als dem üblichen Interesse musterte. Das klare und glänzende Gesicht, die stehen gebliebenen
Bartstoppeln an Wangen und Kinn, wo der Rasierapparat versagt hatte, die kurz geschnittenen Haare
und die hellwachen Augen. Auf der Straße hätte er Morrison für einen Schüler der sechsten Klasse
gehalten. Als Pathologe, wenn auch nur Dentalpathologe, hätte der Mann keinen krasseren Gegensatz
zu Philip Cousins bilden können.
Als er erfuhr, dass Rebus Schotte war, hatte Morrison angefangen, sich darüber auszulassen, wie
viel die moderne Pathologie doch den Schotten verdanke, »Männern wie Glaister, Littlejohn und Sir
Sydney Smith«, obwohl Letzterer, wie Morrison hatte einräumen müssen, in Australien geboren war.
Dann erzählte er, sein Vater sei auch Schotte gewesen, ein Chirurg, und fragte Rebus, ob er
wüsste, dass der erste britische Lehrstuhl für Rechtsmedizin in Edinburgh eingerichtet worden
sei. Ganz
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