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Wolfsmale

Titel: Wolfsmale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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soweit Rebus das beurteilen konnte - aus hellrosa Gips geformt war. »Sie können alles von
der Nase aufwärts ignorieren, wenn Sie möchten«, sagte Morrison. »Das ist nämlich ziemlich
spekulativ, gestützt auf Mittelwerte aufgrund der Ausprägung des Kiefers. Doch der Kiefer selbst
ist meines Erachtens ziemlich exakt.«
Und es war in der Tat ein merkwürdiger Kiefer. Die oberen Zähne standen so weit vor, dass die
Oberlippe und der gesamte Bereich unterhalb der Nase überdehnt und gewölbt waren. Der Unterkiefer
schien in einer wie es Rebus vorkam - neanderthalerhaften Weise so tief in dem Kopf zu stecken,
dass er fast verschwand. Das Kinn wirkte schmal und verkniffen, und die Wangen waren oben so
stark geschwollen, dass sie eine Linie mit der Nase bildeten, aber konkav nach unten verliefen.
Es war ein außergewöhnliches Gesicht, wie es Rebus, soweit er sich erinnern konnte, in der realen
Welt noch nie begegnet war. Aber das hier war ja auch nicht die reale Welt, oder? Es war eine
Rekonstruktion, die auf Durchschnittswerten und Vermutungen basierte. Flight starrte fasziniert
auf das Gesicht, als wollte er es sich genau einprägen. Rebus hatte plötzlich die beunruhigende
Vorstellung, Flight würde ein Foto von dem Modell an die Zeitungen geben, und das erste arme
Schwein, das ihm mit so einer Physiognomie über den Weg lief, verhaften.
»Würden Sie das als deformiert bezeichnen?«, fragte Rebus.
»Um Himmels willen, nein«, sagte Morrison lachend. »Da hätten Sie mal ein paar von den
medizinischen Fällen sehen sollen, mit denen ich bereits zu tun hatte. Nein, das hier könnte man
nicht als deformiert bezeichnen.«
»Entspricht ganz meiner Vorstellung von Mr. Hyde«, bemerkte Flight.
Erzähl mir bloß nichts von Hyde, dachte Rebus bei sich.
»Vielleicht«, sagte Morrison und fing wieder an zu lachen. »Was ist mit Ihnen, Inspector Rebus?
Was meinen Sie dazu?«
Rebus betrachtete das Modell erneut. »Es sieht prähistorisch aus.«
»Ah!«, sagte Morrison begeistert. »Das hab ich auch als Erstes gedacht. Besonders der vorstehende
Oberkiefer.«
»Woher wissen Sie, dass das der Oberkiefer ist?«, fragte Rebus. »Könnte es nicht auch genau
umgekehrt sein?«
»Nein, ich bin mir relativ sicher, dass es so stimmt. Die Bissabdrücke sind ziemlich konsistent.
Das heißt, abgesehen von Opfer Nummer drei.«
»Oh?«
»Ja, Opfer Nummer drei, das war eine merkwürdige Sache. Da schien der untere Satz Abdrücke, also
der eigentlich kleinere, größer zu sein als der obere Satz. Wie Sie an dem Modell sehen können,
hätte der Mörder sein Gesicht schon sehr verrenken müssen, um so einen Biss hinzukriegen.«
Er führte ihnen das recht anschaulich vor, indem er den Mund weit aufriss, den Kopf in den Nacken
legte, den Unterkiefer vorschob und dann heftige Beißbewegungen machte.
»Bei den anderen Malen hat der Mörder eher so gebissen.« Erneut gab er eine Kostprobe seiner
pantomimischen Fähigkeiten. Diesmal zog er die Oberlippe zurück und biss mehrmals so fest zu,
dass die oberen Zähne auf die unteren knallten.
Rebus schüttelte den Kopf. Das machte die Sache nicht klarer, sondern verwirrte ihn eher noch
mehr. Er deutete mit dem Kopf auf das Gipsmodell.
»Glauben Sie wirklich, dass der Mann, nach dem wir suchen, so aussieht?«
»Der Mann oder die Frau, ja. Natürlich mag ich bei diesem Modell manches ein wenig übertrieben
haben, aber im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt.«
Rebus hatte nach dem ersten Satz nicht mehr zugehört. »Was soll das heißen: oder die Frau?«,
fragte er.
Morrison zuckte theatralisch die Achseln. »Das ist wieder etwas, worüber ich bereits mit
Inspector Flight gesprochen habe. Ich habe lediglich den Eindruck - selbstverständlich rein
aufgrund der zahnmedizinischen Befunde -, dass dieser Kopf genauso gut von einer Frau sein könnte
wie von einem Mann. Die große obere Zahnreihe erscheint mir sehr männlich, nach der Größe zu
urteilen und so, doch die untere Reihe erscheint mir aus dem gleichen Grund sehr weiblich. Ein
Mann mit dem Kinn einer Frau oder eine Frau mit einem männlichen Oberkiefer?« Er zuckte erneut
die Achseln.
»Suchen Sie sich was aus.«
Rebus sah zu Flight, der bedächtig den Kopf schüttelte. »Nein«, sagte Flight, »es ist ein
Mann.«
Rebus hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass eine Frau hinter den Morden stecken
könnte. Der Gedanke war ihm nie gekommen.
Bis jetzt.
Eine Frau? Unwahrscheinlich, aber warum unmöglich?

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