Wolfsmale
konzentriert durch. »Was hältst du davon?«, fragte er. Rebus setzte sich auf einen harten
Stuhl, der immer noch warm war von Lisas Körper. Er nahm Flight das Blatt aus der Hand, dann
rückte er seinen Stuhl so, dass sie beide den Brief betrachten konnten.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Auf den ersten Blick sieht das aus wie das Werk eines
halben Analphabeten.«
»Stimmt.«
»Aber andererseits hat es etwas Gekonntes an sich. Sieh dir mal die Interpunktion an, George.
Absolut korrekt, bis zum letzten Komma. Und er benutzt sogar Doppelpunkt und Semikolon. Wer würde
denn musst mit einem s schreiben und gleichzeitig wissen, wie man ein Semikolon
benutzt?«
Flight betrachtete den Brief aufmerksam und nickte. »Mach weiter.«
»Rhona, meine Exfrau, ist Lehrerin. Ich weiß noch, wie sie mir immer erzählt hat, wie
frustrierend das sei, dass sich heutzutage in der Schule niemand mehr die Mühe macht,
grammatikalische Grundkenntnisse und Interpunktion zu unterrichten. Sie hat gesagt, dass die Kids
mit Doppelpunkten und Semikolons nichts mehr anfangen können und keine Ahnung haben, wie man sie
verwendet. Deshalb würde ich sagen, wir haben es entweder mit jemandem zu tun, der eine sehr gute
Ausbildung hat, oder mit jemandem mittleren Alters, der zu einer Zeit zur Schule gegangen ist,
als Interpunktion noch überall unterrichtet wurde.« Flight lächelte vage. »Hast wohl wieder in
deinen Psychologiebüchern gelesen, John.«
»Das ist nicht alles schwarze Magie, George. Das meiste hat einfach mit gesundem Menschenverstand
zu tun und wie man Dinge interpretiert. Soll ich weitermachen?«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Na gut.« Rebus fuhr erneut mit einem Finger die Zeilen entlang. »Da ist noch was, das mir sagt,
dass dieser Brief wirklich von dem Mörder stammt und nicht von irgendeinem Verrückten.«
»Ach?«
»Nun mal los, George, woran sieht man das?«
Er hielt Flight das Blatt hin. Flight grinste kurz, dann nahm er es.
»Ich nehme an«, sagte er, »du meinst, weil der Schreiber vom Wolfsmann in der dritten Person
spricht.«
»Du hast es erfasst, George. Genau das hab ich gemeint.«
Flight schaute auf. »Ach übrigens, John, was ist eigentlich mit dir passiert? Bist du in eine
Schlägerei geraten oder was? Ich hab gedacht, die Schotten würden schon seit einigen Jahren keine
Kriegsbemalung mehr tragen.«
Rebus befühlte sein lädiertes Kinn. »Die Geschichte erzähl ich dir ein andermal. Aber sieh mal,
im ersten Satz spricht der Schreiber von sich in der ersten Person. Er hat unsere Stichelei mit
der Homosexualität persönlich genommen. Doch im Rest des Briefes spricht er vom Wolfsmann in der
dritten Person. Übliche Praxis bei Serienkillern.«
»Was ist mit der falschen Schreibung von homosexuell?«
»Könnte echt sein, könnte aber auch den Zweck haben, uns auf eine falsche Fährte zu lenken. u und e sind auf der Tastatur ziemlich weit auseinander. Jemand, der nur mit zwei
Fingern tippt, könnte das e verfehlen, wenn er schnell schreibt oder wenn er wütend ist.«
Rebus hielt inne, weil er sich an die Liste in seiner Tasche erinnerte. »Ich spreche aus
Erfahrung.«
»Okay.«
»Jetzt sieh dir mal an, was er da sagt: Wolfsmann ist, was Wolfsmann tut. Die Bücher
behaupten, dass Mörder ihre Identität durch Töten finden. Genau das bedeutet dieser Satz.«
Flight atmete laut aus. »Ja, aber das alles bringt uns nicht weiter, oder?«
Er bot Rebus eine Zigarette an. »Ich meine, wir können uns ein so genaues Bild von der
Persönlichkeit dieses Dreckskerls machen, wie wir wollen, deshalb haben wir noch lange keinen
Namen und keine Adresse.«
Rebus beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Aber wir engen doch die ganze Zeit den möglichen
Täterkreis ein, George. Und irgendwann werden wir bei einer einzigen Möglichkeit angekommen sein.
Sieh dir die letzten beiden Sätze an.«
» Sag einfach die Wahrheit, denn Lügen haben kurze Beine. Sag einfach die Wahrheit, und dir
wird nichts passieren «, las Flight vor.
»Abgesehen von diesem blöden Spruch, findest du nicht, dass diese letzte Wendung etwas sehr
Offizielles hat? Etwas sehr Formelles?«
»Ich versteh nicht, worauf du hinaus willst.«
»Ich meine, dass das genau die Formulierung ist, die jemand wie du oder ich gebrauchen
würde.«
»Ein Polizist?« Flight lehnte sich zurück. »Also bitte, John, was soll denn der Scheiß?«
Rebus' Stimme wurde leise und eindringlich. »Jemand, der weiß, wo Lisa Frazer wohnt, George. Denk
mal darüber
Weitere Kostenlose Bücher