Wolfsruf
kleinen Jungen?«
Er tanzte. »Sind Sie verrückt geworden?« Wie anscheinend die ganze Welt. Der Indianer begann wie ein Wolf zu heulen. Es klang so echt, dass sie an Wien denken musste - die Nacht, als der Graf seinen Ball abgehalten hatte -, und zum ersten Mal fühlte sie Entsetzen. Sie zwängte sich an ihm vorbei. Machte einen großen Schritt über den Leichnam einer Frau hinweg, deren Brüste in Fetzen geschossen worden waren. Sie trat auf Splitter: Schenkelknochen. Der Wind heulte wild. Die Perücke der toten Frau flog Speranza ins Gesicht. Sie schlug sie beiseite und ging weiter. Ihr Herz klopfte schneller. Sie musste ihn finden.
Der alte Indianer heulte.
Der Speisewagen. Die Tische waren fürs Frühstück gedeckt, aber der Boden war mit Porzellanscherben übersät.
Ein Wagen voller Passagiere. Männer mit Pistolen und Gewehren vor den Fenstern auf der rechten Seite. Links Frauen und Kinder, die zwischen den Sitzen kauerten. Sie entdeckte Johnny und den anderen Jungen. Sie krabbelten auf allen vieren in ihre Richtung, zwischen den Leibern der Toten und Lebenden hindurch. Auf Johnnys Gesicht war Blut. Sie rief ihn. Sie versuchte, zu ihm zu gelangen.
Sie hörte jemand sagen: »Sie haben den Heizer erschossen.«
»Der Bremser läuft nach vorn und versucht, den Zug zu stoppen.«
»Das schafft er nie. Die knallen ihn ab, bevor er auch bloß eine Bremse angezogen hat.«
Er stürzte ihr in die Arme. Über ihren Köpfen donnerten Stiefel auf Holz. »Warum suchst du mich?«, keuchte er. »Ich war … auf dem Weg zurück … zu meinem Vater.«
»Bist du Johnny? Oder einer … von den anderen?«
»Ich weiß nicht. Bitte, lass uns gehen.«
Sie drängten sich zur Tür zurück. Über die Kupplung in den Speisewagen, rannten über zerborstenes Porzellan und gelangten in den Waggon, wo der Indianer tanzte. Ein schauriger, zittriger Singsang, der oft in ein Wolfsheulen umkippte. Sie registrierte einen vertrauten Geruch - Hundepisse, die eine Zeit großer Emotionen für die Werwölfe ankündigte. Aber es war noch kein Vollmond!
Sie schaute ihren Schützling scharf an. Es war zu dunkel, um festzustellen, ob seine Hosen nass waren. Sie sah nur, dass er wie gebannt den Tanz des Indianers verfolgte. Die Blicke der beiden trafen sich wie zu einer mystischen Vereinigung. Der Wind fauchte durch die zerplatzten Fensterscheiben. Aber nicht deshalb war es ihr so kalt. »Madam«, sagte der Zeitungsjunge plötzlich, »ich glaube, wir sollten weiter.«
»Du fühlst es auch, nicht wahr?«
»Ihr Junge macht manchmal merkwürdige Sachen, Madam. Er ist nich’ … Er is’ ziemlich daneben, wie? Im Kopf, meine ich. Schauen Sie ihn und diesen Indianer an!«
Johnnys Arme und Beine bewegten sich spastisch, unkontrolliert. Plötzlich brüllte er mit grausamer, tiefer Stimme: »Nimm den verdammten Körper, Arschloch, du bist doch nur gut, um Schmerz und Pein zu ertragen!«
»Johnny!«, rief Speranza.
Sie packte seine Hand und führte ihn weiter. Noch mehr Männergesichter, bleich im Mondlicht, und blitzende Mündungsfeuer in der Nacht. Weiter. Claggart lag immer noch reglos da, seine Hand umkrampfte das Gold. Teddy schrie: »Ist er tot?«, blieb aber nicht stehen, um das zu überprüfen. Sie erreichten die Tür zum Privatwagen des Grafen.
Die Tür wurde aufgerissen: »Schnell. Sie und der Junge.«
Von Bächl-Wölfling stand draußen. Der Geruch ging von ihm und den anderen im Waggon aus. Der Zug schaukelte heftig. Sie strauchelte, streckte ihre Hand aus - er nahm sie. Wärme durchströmte sie. »Sie und der Junge. Dieses Wesen da …« Er bedachte den Zeitungsjungen mit einem angeekelten Blick. »Ich fürchte, er gehört nicht zu uns.« Sein Mantel flatterte im Wind. Seine Augen hatten ein wenig von dem wölfischen Leuchten angenommen.
Teddy schaute ihm verächtlich ins Gesicht. »Ich hab keine Angst vor Ihnen, Mister. Ich bin gekommen, weil mein Freund das so will. Ich bin’ gewöhnt, nirgendwo dazuzugehören.«
»Scher dich fort, Bursche. Du verstehst nicht, worum es hier geht.«
»Ficken Sie sich ins Knie, Mister Großmaul.«
Speranza schaute vom einen zum anderen. Sie trat auf die Plattform des anderen Wagens. Johnny rührte sich nicht.
»Mein Sohn«, ermahnte ihn der Graf, »du musst jetzt zu mir kommen.«
»Teddy kommt auch mit.«
»Ich habe dich schon zu lange gewähren lassen. Erst dieses Kindermädchen, das schon zu viel weiß, und nun …«
Dafür hältst du mich also, dachte Speranza. Obwohl du mich an den
Weitere Kostenlose Bücher