Wolfsruf
seine Seele in Dutzende widerstreitender Persönlichkeiten zersplittert war, hatte es nicht eine Zeit gegeben, zu der er vollständig gewesen war? Die Musik weckte die Erinnerung daran. Und als sein Vater ihm zurief: »Er füttert dich mit Täuschungen, falschen Hoffnungen … du bist, wie du bist, wie ich bin, wie wir alle sind … erfreue dich deiner Verdammnis, jubiliere, sei glücklich, sei, was die Dunkelheit aus dir gemacht hat«, da schenkte er den Worten keine Beachtung, die durch den bitteren Rauch zu ihm herüberdrangen, denn die Musik war viel süßer. Sie lockte ihn. Seine Füße wurden leichter. Er tanzte auf den Mondstrahlen.
Und der alte Mann sprach in der Sprache der Wölfe: »Hör mir zu. Du hörst ein Echo der Musik des Mondtanzes. Du kannst die Musik hören, weil du einer von uns bist. Du bist Shungmanitu. Komm zu deinem Volk. Der Mond ist die Quelle des Lichtflusses. Wir tanzen mit dem Mond. Wir sind eins und doch nicht eins mit dem Volk der Ebene und des Waldes und der Hügel. Wir sind eins und doch nicht eins mit den Wesen mit vier Beinen, den Wesen mit Flügeln, den Wesen mit Flossen und den Wesen mit Schuppen. Höre die Musik.«
Und sein Vater heulte, heulte mit einer so verzweifelten Kraft, dass der Bann fast gebrochen wurde. Der junge Wolf öffnete die Augen. Er stand mitten im Dorf. Ein paar Kinder, noch schlaftrunken, kuschelten sich an die Leiche ihrer Mutter. Ein alter Mann mit gebrochenem Genick lag auf dem Bauch. Das Rückgrat ragte aus dem aufgerissenen Rücken, und zwei Wölfe umkreisten ihn knurrend, beide die Beute beanspruchend. Und in der Mitte des Geschehens stand sein Vater. Leichen lagen auf einem Haufen neben dem Feuer, und sein Vater stand auf dem Gipfel dieses Haufens, heulte, heulte, schlug mit der Pfote in die Luft, heulte seine Wut hinaus.
Und dann heulten alle Wölfe zusammen, und ihr Heulen hatte einen Namen: »Tod, Tod, Tod, Tod, Tod.«
Dann kam die Stimme seines Vaters. »Glaube ihm nicht. Wir sind Dunkelheit, und zu Dunkelheit sollen wir wieder werden. Lass alle Hoffnung fahren, mein Sohn. Erfreue dich, dass wir die Werkzeuge des Chaos sind. Erfreue dich, dass es keine Hoffnung gibt.«
Und dann heulten sie wieder, und ihr Heulen war: »Chaos, Chaos, Chaos, Chaos, Chaos.« Und sie stellten sich vor dem Wolfskönig auf, und er ölte sie mit seinem Urin und markierte sie mit seinem Duft, und sie heulten seinen Namen wieder und immer wieder.
Der junge Wolf sah zu. Sein Vater schüttelte die letzten Urintropfen von seinem Bein und senkte den Kopf, um an den Genitalien eines toten, tapferen Indianers zu nagen.
Das Flötenspiel kam wieder. Sein Vater hielt inne, legte den Kopf schief, entblößte seine Fänge, knurrte leise. Der alte Mann tanzte den schmalen Pfad herunter, spielte Flöte, kam ohne jede Furcht direkt auf das Rudel zu. Der Jungwolf stellte seine Ohren auf; er stellte sich dem alten Mann; es war, als würde er auf ihn zutreiben, in einem Teich aus Mondlicht.
Plötzlich brach wütendes, wildes Gebell aus. Die anderen Wölfe umringten sie. Sein Vater sprang von dem Leichenhaufen herab und stürzte sich auf den Alten, doch eine unsichtbare Kraft warf ihn zurück, sodass er aufjaulend zu Boden fiel.
Der Jungwolf heulte: »Vater, Vater …«
Aber sein Vater war weit weg. Er folgte jetzt dem alten Mann, aus dem Rudel heraus, an den brennenden Tipis vorbei, ans Ufer des Baches, in den Kreis aus blauen Flammen.
Und die anderen Wölfe folgten ihm und versuchten, in den Kreis zu gelangen, fielen aber zurück, als stünden sie in Flammen, nur er und der Alte passierten die Barriere ohne Schwierigkeiten, und die Stimmen in seinem Inneren kämpften um seine Aufmerksamkeit, rissen die Schranken nieder, die er errichtet hatte, starrten durch seine Augen, spürten den heißen Wind durch seinen Pelz, und jetzt fühlte er auch diese traurige
Figur namens Johnny in seiner Haut, der versuchte auszubrechen.
Die Wölfe gelangten nicht in den Kreis. Aber ihr Heulen ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, und Teddy vermied es, ihnen in die Augen zu sehen. Scott Harper lag in seine Decke gewickelt wie ein Leichnam, und seine Ma hielt ihn schweigend und wiegte ihn vor und zurück. Sie hatte eine Vision, vermutete er. Sie sang leise zu sich selbst, und Teddy fürchtete, es könnte ein Todesgesang sein. Es kam vor, dass ein Lakota irgendwann einfach sitzen blieb und sich selbst ins Grab sang.
Dann bemerkte Teddy den Alten mit dem Wolfswelpen zu seinen Füßen. Der
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