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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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der Dinge, denn damit hätte ich dich sterben lassen.«
    Der Hügel wurde steiler. Sie wanderten am Ufer eines Baches entlang. Er konnte die Fische riechen, die durchs Wasser schnellten. Hier und da zeigte sich zwischen dem Kieferndach
ein Fleck blauen Himmels. Sogar die Vögel schwiegen; sie wissen, dachte Ishnazuyai, dass ein wichtiges Wesen durch ihr Revier wandert.
    »Wie lange noch?«, radebrechte der Junge.
    »Noch ein paar Tage.« Noch immer lag Schnee auf den Gipfeln. Der Junge spielte mit den Federn im Haar des alten Kriegers und streichelte immer wieder vorsichtig über seine glatten Wangen; bestimmt war er an die vernarbten, haarigen Gesichter der Washichun -Wölfe gewohnt.
    »Lässt du mich’runter, damit ich neben dir gehen kann?«
    Aber Ishnazuyai ließ sich nur ungern darauf ein. Nicht weil er Angst hatte, der Junge könnte ihm entfliehen, er war so wertvoll, so wichtig für das Überleben der Wölfe, dass er ihn nicht aus der Hand lassen wollte. Als er der Bitte trotzdem nachkam, bemerkte er kaum, dass eine Last von seinen Schultern genommen war; es war nur ein kleiner Junge, und er wog fast nichts. Aber er spürte den Wind an seinem Rücken und plötzliche Kälte, denn der Junge strahlte eine sengende Hitze aus, die Hitze der Wandlung, obwohl er sich nicht veränderte. Er war mehr als ein Wichasha Shungmanitu; selbst in seiner menschlichen Gestalt wanderte er ständig zwischen den Splittern seines Selbst hin und her.
    Ehe er uns retten kann, muss er selbst geheilt werden, dachte Ishnazuyai.
     
    Jonas Kay hatte sich versteckt, seit der alte Indianer dieses verführbare kleine Wiesel hypnotisiert hatte, damit es seinen Vater verließ. Er tobte durch den Wald, aber jedes Mal, wenn er versuchte, auf die Lichtung und ins Bewusstsein des Körpers zu stürmen, traf er auf einen stärkeren Widerstand als sonst. Dieser Bastard hatte eine Allianz gegen ihn geschmiedet! Und was er schon während der Zugfahrt vermutet hatte, bestätigte sich nun - Johnny verstand die Sprache der Wölfe. Es gab einen Bereich in Johnny, der so animalisch war wie Jonas.
Und das erzürnte Jonas, denn er wollte das Tier ganz für sich allein.
    Mürrisch hängte er sich kopfüber an einen Baum und schwang hin und her, um seinen Widersacher hin und wieder zu verhöhnen. »Ich weiß gar nicht, was du willst«, rief er. »Früher warst du ganz zufrieden. Du hattest diese widerwärtige Französin, und ich … ich hatte die Nacht, die Wölfe. Wenn du nur halbwegs bei Verstand wärst … ich wünschte, ich hätte dich im Irrenhaus gelassen!«
    Er schwang noch einmal hoch und landete auf allen vieren auf dem weichen Boden. Er versuchte, durch die Augen des Jungen in die Außenwelt zu sehen, aber die anderen drängten sich davor, ließen ihn nicht durch. Als er einen winzigen Blick erhaschte, erkannte er, dass sich die Außenwelt nicht von der Innenwelt unterschied. Ein Wald. Die Luft war modrig feucht. Und sie gingen und gingen. Ein anderer Wald und doch derselbe Wald. Ein Gefühl, als wäre der Körper von innen nach außen gestülpt worden.
    Johnny war wieder auf die Schultern des Indianers geklettert. Das blöde Gör lachte, spielte mit dem fettigen Haar des Wilden - die Läuse sahen dick und lecker aus. Wenn Johnny nur einen Augenblick unachtsam -
    Da! Er versuchte einen Dachs anzulocken, der über den Waldboden wackelte. Was für ein sentimentaler kleiner Clown, dachte Jonas. Er verachtete ihn aus vollem Herzen. Aber das verschaffte ihm die nötige Öffnung. Jonas sprang heraus, biss in eine dieser saftigen Läuse und zog sich sofort wieder in die Dunkelheit zurück.
    »Guten Appetit, kleiner Johnny!«, rief er hämisch, als Johnny wieder auf die Lichtung geschleudert wurde.
     
    Johnny spie die Laus augenblicklich aus. Er verzog das Gesicht. Jonas war irgendwo dort unten. »Zurück«, flüsterte er, »zurück, zurück, zurück!«

    Ishnazuyai blieb stehen. Vielleicht glaubte er, der Junge wollte herunter; er ließ Johnny von seinem Rücken klettern und vorlaufen, obwohl er ihn keine Sekunde aus den Augen ließ.
    Der Kleine war wendig. Er kraxelte bergauf. Auf allen vieren war das leichter, denn der Hügel war steil. Er war nackt - seine Kleider hatte er bei der Verwandlung verloren -, und das lose Geröll piekste ihn in die Hände und Ellenbogen. Er hörte Ishnazuyai hinter sich, und er wusste, dass der alte Indianer ihn beobachtete, aber er witterte auch ein anderes menschliches Wesen - er schmeckte den Kummer -, eine Frau, die Tag

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