Wolfsruf
und Nacht gelaufen sein musste, und das seit mehreren Tagen.
Er spähte durchs Gebüsch.
Und er erkannte die Frau, die unter einer Kiefer hockte und vor sich hin sang, obwohl sich die lange Reise in ihr Gesicht geprägt hatte und ihr Geruch schärfer geworden war. Tod sprach aus ihrem Lied und aus ihrer zusammengesunkenen Haltung. Es war Teddys Mutter.
Leise rief er ihr zu: »Little Elk Woman!«
Irritiert blickte sie auf. Zweifellos sah sie bloß seine Augen durch das dichte Laub. Er streckte sein Gesicht durch die Blätter und sagte auf Englisch, denn er kannte ihre Sprache nicht: »Warum bist du nicht bei Teddy?«, und dann: »Es tut mir leid, dass dein Mann tot ist. Ich hab es nicht getan … ich hätte niemals so etwas getan, glaub mir.« Obwohl er Jonas’ ironisches Gelächter tief in seinem Inneren hörte.
Ängstlich starrte sie ihn an. Er wusste, dass er eine seltsame Erscheinung war - ein nacktes weißes Kind mitten in der Wildnis. Hinter sich hörte er andere Geräusche, Ishnazuyai spielte wieder auf seiner Flöte. Die Musik schien die Frau zu beruhigen, und sie antwortete mit einem Akzent, der französisch und indianisch zugleich klang: »Du bist Kind Ishnazuyai erzählen.«
»Du willst … sterben, nicht wahr?«, fragte Johnny. »Aber was ist mit Teddy?«
»Ich sagen, er finden Vater.« Sie wandte sich von ihm ab und nahm ihr Todeslied wieder auf. Johnny roch den Tod an ihr, und die Erwartung des Todes - der Geruch einer Beute, die weiß, dass der Jäger nah ist. Und dann wusste er auch, welchen Tod sie erwartete.
Wenn die Wölfe in Wien ihr Opfer mit den Augen bannten, dann tat der Alte es mit dem Spiel seiner Flöte.
Der Alte war direkt hinter ihm. Der Hauch der Flöte wehte ihm kühl in den Nacken. Er drehte sich um, verzerrte seine Gesichtsmuskeln zur Sprache der Nacht und sagte grob: »Ich will nicht, dass du sie tötest. Vor wenigen Tagen hast du sie beschützt.«
»Andere Wölfe werden kommen. Ich bin zu alt, um mich zu wandeln.«
»Ich will, dass du sie beschützt.«
»Aber das ist gegen die Natur. Sie hat den Tod gesucht, Kind, und wir können ihr Lied nicht ungesungen machen.«
Aber Johnny rief die Frau, spürte ihren Schmerz: »Du darfst jetzt nicht sterben … ich habe dich gefunden!« Und weil er das Unbehagen des Alten fühlte: »Ein Lied kann ungesungen gemacht werden! Wenn ich all das bin, was der alte Mann sagt, dann bin ich derjenige, der all das ungesungen macht, was geschehen ist … die Ankunft der weißen Shungmanitu, den fürchterlichen Krieg der Wölfe.« Er wusste nicht, woher er die Worte nahm. Und trotzdem klangen sie wahr. Sogar die Frau lächelte leicht. Und dann sagte er zu ihr, als könnte er das Schicksal sehen, das sie aus ihrem Dorf getrieben hatte: »Ich brauche eine Menschenmutter.«
Die schmerzhafte Erinnerung an Speranza im Lager seines Vaters tauchte in ihm auf, und er dachte: Sie ist für mich verloren. Sie liebt ihn zu sehr.
Schmerz überflutete ihn. Aber er stemmte sich gegen den Schmerz. In seinem Geist hörte er Jonas vom Rande der Lichtung her: »Vergiss sie! Sie ist fort, du jämmerlicher kleiner
Waschlappen. Und bald bist auch du fort, weil sie mich wollen, mich, den Werwolf, nicht dich, die Heulsuse.« Aber er wusste, dass die anderen noch auf seiner Seite waren; solange die Allianz hielt, konnte er Jonas zurückschlagen. Laut sagte er zu der Frau: »Komm mit uns. Ich brauche einen Menschen, wenn ich unter den Werwölfen leben soll.«
Leise meinte Ishnazuyai zu Little Elk Woman: »Ich hatte recht. Unsere Hoffnungen ruhen in diesem Kind, denn er allein besitzt Mitleid.«
Irgendwo vor ihnen flüsterte ein Bach; Blätter rauschten im Bergwind. Die Luft war dünn, und Johnny Kindred zitterte vor Kälte. Er hoffte, dass die Reise bald zu Ende war. Aber es sollte noch ein paar Tage dauern, bis er und der Alte und Little Elk Woman den heiligsten Ort der Shungmanitu erreichten, das Wolfslager, in das sich noch kein Menschenwesen gewagt hatte.
17
Winter Eyes
Mond im letzten Viertel
Die Stadt lag zwischen den Hügeln, nicht weit von einem bedrohlichen, hoch aufragenden Felsen entfernt, der seinen langen Schatten über die tiefgrüne Ebene warf. Der Graf von Bächl-Wölfling ritt der Prozession voran, Natalia Petrowna an seiner Seite, während man Speranza in den Proviantwagen verbannt hatte. Solange Natalia ihrer Position als Wolfskönigin nicht ausdrücklich enthoben war, wäre es unziemlich gewesen, wenn Speranza bei offiziellen
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