Wolfsruf
Schließlich waren Sie ja seine Lieblingshure und seine Zuchtwölfin! Dr. Swanson hat lange über Ihre Besuche bei ihm geplaudert …«
»Er hat Ihnen davon erzählt! Ihnen! « Unerträglicher Zorn und unerträgliche Wut erfassten Speranza.
»Zweihundertfünfzig Golddollar«, antwortete Claggart. »Und ich hab ihm am nächsten Morgen bei einem kleinen Spielchen jeden einzelnen davon wieder abgenommen. Er hat sich halb bewusstlos gesoffen und mir alles, alles erzählt! Sie, Miss Hope Martin, wie Sie sich nennen, Sie tragen vielleicht hübsche Kleider, aber darunter steckt doch nur eine kokasüchtige Hure …«
»Ich bin nicht süchtig …«, protestierte sie, und doch wusste sie, dass es stimmte, dass alles stimmte - sie hatte ihren Vorrat aufgebraucht, sie spürte Schmerzen, die in Wellen durch ihren Kopf fuhren, in ihrem Schädel hämmerten, pulsierten, pulsierten.
Der junge Wolf heulte, tanzte auf dem Leichnam. Er riss das Herz aus der Brust, kaute darauf herum, spuckte die harte Aorta wieder aus. Er wälzte sich in der ausgeweideten Brusthöhle und kam blutverschmiert wieder zum Vorschein.
Und doch - sie sah, dass der Indianer lächelte, seltsam friedlich,
obwohl sein Kopf im rechten Winkel an seinem Hals hing.
»Johnny, komm zu mir …«
Der Wolf schaute auf. Seine Gestalt schwankte kurz, und sie glaubte, die ängstlichen Augen ihres ehemaligen Mündels zu erkennen.
»O Johnny …« Sie streckte ihm die Arme entgegen. Er zögerte. Und doch erkannte er sie, sie wusste es!
In diesem Moment warf Claggart ein Netz über ihn. Ein Netz aus Silberfäden. Und lachte wieder.
Der Wolfsjunge biss um sich, Schaum vor dem Mund, schlug mit seinen Pfoten. Claggart sprang von seinem Aussichtspunkt herab und begann, den Jungen mitsamt dem Netz in einen Mehlsack zu stopfen. Johnny kämpfte. Speranza rannte zu ihm. Sie stolperte. Fiel mit dem Gesicht voran auf den Leichnam des Indianers. Keine Zeit zum Ekeln, dachte sie und erhob sich aus dem blutigen, schleimigen Kadaver des Alten. Sie bearbeitete Claggart mit ihren Fäusten, aber er schleuderte sie mit einer einzigen Armbewegung gegen einen Baumstamm. Ein Kindergesicht blickte sie aus der Sacköffnung an; die Augen waren mitleidserregend, eingesunken, zutiefst verzweifelt.
»Monster!«, schrie Speranza Claggart an.
»Er war mein Vater«, meinte Johnny mit Blick auf den Toten. »Auf seine Weise, wie der Graf.«
»Na«, belehrte ihn Claggart, »jetzt bin ich dein Vater, mach dir darüber mal keine Illusionen!«
Dann hauchte Johnny so leise, dass nur sie es hören konnte: »Es war alles vergebens, weißt du? Es ist mir nicht bestimmt, die Wölfe zu führen. Ich bin bloß ein Aussätziger … nicht mehr, nicht weniger.« Und eine andere Stimme, die sie als die Jonas Kays erkannte: »Ein verdammter Aussätziger!«
Speranza rief: »Er wird nie geheilt werden! Er muss doch endlich eins werden …«
»Er wird schon eins werden, keine Angst«, versicherte ihr
Claggart höhnisch. »Ich werde ihn lehren, was er wirklich ist. Ich werde ihm geben, was ihr ihm alle nicht geben könnt, einen Sinn … einen wahren Sinn, nicht dieses Geschwätz von Bestimmung und Schicksal, er ist nicht für eine Bestimmung oder ein Schicksal geschaffen, nein, Madam, er ist zum Töten geschaffen!«
Dann hörte sie Johnny sprechen: »Speranza!«
Und eine andere Stimme: »Johnny ist tot … der Indianer ist tot! Ja, du lächerliche, keusche Gouvernante mit deinen schmutzigen kleinen Fantasien … sie sind alle tot … alle, alle, alle … die Heilung ist vollbracht … wir sind jetzt eins … wir, Jonas Kay, der Werwolf!« Als Claggart den Jungen vollends in den Sack stopfte, hörte sie ein animalisches Geheul.
Claggart verschnürte den Sack und hievte ihn sich über die Schulter. Er hing unbewegt herab. Der Junge kämpfte nicht mehr. Hatte er endgültig aufgegeben? Aber wie hätte er sich auch wehren können? Es war hoffnungslos. Wie konnte ich mir nur einbilden, dass ich, ich allein, ihn erlösen könnte? Er trägt so viel Schmerz in sich, und er hat den Schmerz so vieler anderer auf sich genommen - oder aufgeladen bekommen.
Claggart begann den Hügel hinabzuwandern.
Sie wollte ihm nachlaufen, als -
Eine Wolfsfrau auf sie zukam, mit im Mondlicht flammend rotem Haar. »Hündin!«, heulte sie. »Hündin …« Und war über ihr. Stieß sie in den Magen, sodass sie wieder über den Toten stolperte. Sie drehte sich um und sah die Wölfin, die ihr das Kleid vom Leibe riss, deren Fänge ihr Fleisch
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