Wolfsruf
Kuss, jede Zärtlichkeit des Werwolfs sich in ihrem Antlitz eingegraben hatte. Sie studierte die Falten unterhalb ihrer Augen - wenigen fielen sie auf, aber sie zählte sie jeden Abend, bevor sie zu Bett ging.
Sie ratterten an einem Wald vorbei. Eine kräftige Böe fuhr durch die Eichen, ließ die Kiefern schwanken. Sie versank in einen Traum, aber sie wagte nicht einzuschlafen, weil sie sich vor den Albträumen ängstigte. Der Wald am Horizont verschwamm. Aus seinen Tiefen glaubte sie eine Stimme zu hören: Speranza … Speranza …
Stand da nicht ein Wolf an den Geleisen und schaute zum vorbeifahrenden Zug hoch? War er ihretwegen gekommen, wartete er, wachte er?
»Johnny!«, lag auf ihren Lippen. Aber dann hörte sie den dumpfen Knall einer Flinte, der Wolf überschlug sich, purzelte den Bahndamm hinunter und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Aus weiter Ferne, irgendwo in der dritten Klasse, hörte sie Applaus. Jemand zeterte: »Haltet den verdammten Zug an! Wir wollen unsere Prämie!«
Sie hatte in Harper’s gelesen, dass dieses Jahr allein in Wyoming zehntausend Wölfe getötet worden seien …
Der Zug kam quietschend und kreischend zum Stehen. Sie stocherte in ihrem Fleisch herum, aber sie brachte kaum einen Bissen hinunter. Sie schaute aus dem Fenster und sah das Bahnhofsschild: Granger. Sie hielten nur kurz; die Menschen auf dem Bahnsteig drängelten sich vor den Türen. Dann fuhren sie wieder an. Ein Schatten fiel auf ihren Teller. Es war der Schaffner.
»Madam«, sagte er, »ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir in Rock Springs nicht halten werden … eine militärische Anordnung. Ich habe eben das Telegramm erhalten.«
»Nein!« Sie geriet in Panik. »Ich muss unbedingt heute Nacht dort ankommen!«
»Es würde Ihnen heute da bestimmt nicht gefallen, Madam. Es gibt Unruhen … achtundzwanzig Chinesen wurden massakriert … die Armee stellt gerade Ruhe und Ordnung wieder her.«
»Aber begreifen Sie denn nicht?«, flehte Speranza. »Wenn ich nicht bald bei ihm bin, wird er …«
Sie hielt inne. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie gekommen war, um ein übernatürliches Wesen zu retten? Dass ihre eigene Erlösung davon abhing, dass ihr dieses Mal gelang, woran sie bereits einmal gescheitert war? Dass sie die Annehmlichkeiten San Franciscos nicht hinter sich gelassen hatte, weil sie vor ihren Albträumen fliehen, sondern weil sie sich ihnen stellen wollte? Sie warf einen Blick auf das Papier, auf dem die Auftritte des Wandlungszirkus aufgeführt waren.
»Bitter Creek?«, fragte sie.
»Wir werden morgen am Spätnachmittag dort ankommen, Mrs Dupré. Wenn Sie wollen, könnten wir eine Kutsche bereitstellen,
die Sie nach Rock Springs bringt. Wenn Sie wirklich dorthin möchten, Madam. Wirklich, es ist kein Ort für eine feine Dame wie Sie; die Goldgräber verwüsten die Stadt, und überall hängen Chinesen. Sogar Frauen, so viel ich gehört habe, obwohl man sie mit ihren langen Zöpfen kaum auseinanderhalten kann.«
»Bitter Creek ist genauso gut, ich kann meine … Angelegenheiten auch dort erledigen.«
Ich darf nicht zu spät kommen, betete sie, während der Zug weiterfuhr.
5
Vor Rock Springs
Vollmond
Kurz vor Mondaufgang reichte Teddy vor dem Gasthaus Victor Castellanos die Hand.
»Sie wissen, wohin ich gehe«, meinte Castellanos. »Vielleicht finde ich ein Kalb, das seine Herde verloren hat.«
»Gute Jagd«, wünschte ihm Teddy leise und sah seinem neuen Freund nach. Ein paar Soldaten versuchten, die Toten von der Straße zu schaffen; die Menschen waren von den Straßen verschwunden, nur ein paar neugierige Kinder stocherten mit Stecken in den Leichen herum. Bald waren auch sie verschwunden. Alle hatten sich verkrochen, warteten auf den Beginn von Cordwainer Claggarts Show.
Ein paar Stunden später ritt Teddy den mit Fackeln beleuchteten Weg entlang, der von der Straße vor der Stadt zum Zirkus der Wandlungen führte. Etwa dreißig, vierzig Pferde waren außerhalb des Geländes an langen Koppelstangen festgebunden. Viele trugen Militärsättel. Ein Zwerg spazierte vorbei, mit einem Stapel Dokumente beladen. Er warf Teddy einen finsteren
Blick zu. Als der Mond hinter einer Wolke hervortrat, wieherten die Pferde. Der Mond war bleich, fast bläulich, und von einem Hof umgeben, einer Lichtspiegelung der dünnen Wolkenschicht. Eine Nacht, in der sich die Kinder unter der Bettdecke verstecken und alte Weiber Gespenstergeschichten erzählen, dachte Teddy.
Er schenkte einem Jungen einen
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