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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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gedruckt, sondern auf einen Seidenbezug gemalt. Die Schlangen waren sehr realistisch dargestellt. In einem Samtbeutel lagen zwei Elfenbeinwürfel, und es gab einen Würfelbecher aus Schildpatt.
    Der Junge nickte.
    »Gut, Johnny«, sagte sie. Sie wünschte, sie könnte ihm über die Wange streicheln, aber sie wusste, dass er wieder zurückzucken würde. Stattdessen reichte sie ihm die Würfel.
    Er würfelte eine Drei und rückte konzentriert mit seiner Spielfigur drei Felder vor. Sie stand am Fuß einer Leiter, und er ließ sie bis in die dritte Reihe hochklettern. Speranza würfelte eine Fünf und musste in der untersten Reihe bleiben. Sie spielten ein paar Minuten, bis Speranza auf eine Schlange traf und fast von vorn anfangen musste. Johnny lachte.
    Dann sagte er: »Diese Schlangen sehen aus wie Pimmel, gell, Speranza?«
    Speranza traute ihren Ohren nicht. Einen Moment lang war sie verlegen, dann fragte sie: »Wer hat dich dieses Wort gelehrt, Johnny?«
    »Das war Jonas.«
    »Und wer ist Jonas?«, fragte Speranza neugierig. Ganz offensichtlich war der Erzieher des Jungen nicht gerade empfehlenswert.
    Der Junge schwieg; er sah schuldbewusst aus, und Speranza spürte, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, um nachzufragen. Sie spielten weiter. Johnnys Figur landete auf einer Schlange und schlitterte hinunter. Er kicherte. »Runter bis zum verfickten Schlangenarschloch!«, kommentierte er. Seine Stimme klang anders; tiefer, erwachsener.
    »Johnny, ich bin zwar eine moderne Frau, aber selbst ich finde deine Ausdrucksweise ungehörig«, ermahnte sie ihn nachsichtig.

    »Leck mich am Arsch!«, erwiderte Johnny. Er sah ihr direkt in die Augen. In seinen Augen stand Wut, flammende, unkontrollierbare Wut. »Leck mich, leck mich, leck mich, leck mich!«
    »Johnny!«
    Plötzlich brach er in Tränen aus. »Es tut mir leid«, schluchzte er. »Es tut mir leid, es tut mir leid. Jonas hat mir gesagt, ich soll das sagen, ich war’s nicht, ehrlich, ich war’s nicht.« Er stürzte sich ihr in die Arme und warf dabei das Spielbrett zu Boden. Speranza begriff, wie sehr er ihre Zuneigung brauchte, und drückte ihn fest an sich. Aber als er sein Gesicht in ihrer Brust begrub, hörte sie ihn knurren, und sie spürte sein Knurren durch ihr Korsett hindurch. Es klang wie das Schnurren einer Katze, aber viel heftiger, viel bedrohlicher. Sie dachte, ich brauche mich nicht vor ihm zu fürchten, er ist nur ein Kind, ein armes, verletztes Kind. Und sie presste ihn an ihren Busen, bemüht, ihre Angst nicht zu zeigen.
     
    Sie überquerten den Rhein. In Karlsruhe hatten sie mehrere Stunden Aufenthalt; ein Teil des Zuges wurde abgekoppelt und fuhr nach Norden weiter, während ihr Wagen an einen anderen Zug angehängt wurde, der etwas später aus Basel eingetroffen war. Um dem Jungen etwas Bewegung zu verschaffen, ging Speranza mit ihm auf dem Bahnsteig spazieren. Obwohl der Bahnhof überdacht war, lagen auf den Waggons und Schienen Schnee und Matsch. Viele der Passagiere, die von draußen hereinkamen, hatten verschneite Haare und Mäntel. Der Waggon, den man an ihren ankuppelte, trug ein aristokratisches Wappen.
    »Ich will ihn anschauen!«, bat Johnny. Nichts an ihm erinnerte an das obszöne, raustimmige Wesen, das sich vor Kurzem gezeigt hatte. Er war durch und durch unschuldig. Speranza war inzwischen überzeugt, dass er an einer Spaltung in seiner Seele litt, dass in ihm die Kräfte der Dunkelheit und des Lichts um die Vorherrschaft kämpften. Sie nahm ihn an der Hand und ging mit ihm zu dem Waggon.

    Schwere Vorhänge verwehrten jeden Blick ins Wageninnere. Der Wagen wirkte heruntergekommen, und das Wappen war verblasst; darunter standen in Frakturschrift, die Speranza nur mit Mühe entziffern konnte, die Worte »von Bächl-Wölfling«. Das Wappen selbst war ziemlich gewöhnlich. Zwei Wolfsköpfe schauten sich auf rotem Hintergrund an. Der kleine Michael fiel ihr ein, der sich so sehr für Heraldik interessiert hatte; aber er war auch der Sohn eines Peers gewesen. Sie sann über ihre Vergangenheit als Gouvernante des jungen Adligen nach und bemerkte erst nach einiger Zeit, dass Johnny nahe ans Gleis herangetreten war, dass er mit der Faust dem Wappen drohte - dass wieder dieses bedrohliche Knurren aus seiner Kehle stieg.
    Dann zog Johnny zu ihrem Entsetzen seine Hosen herunter und urinierte an den Wagen.
    »Johnny, hör sofort auf!«
    »Ich bin Jonas!« Er drehte sich um, ihre Blicke trafen sich, sie sah, dass seine Augen goldene

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