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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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denn der Mond ging auf. Er zog die Vorhänge zu. Manchmal war die Metamorphose weniger ausgeprägt, wenn sie dem Mondlicht nicht ausgesetzt war. Aber falls sich Natalia befreien sollte -
    »Hol mir einen!«, begehrte sie auf. »Ich bin hungrig!«
    »Warte bis morgen«, sagte er.
    »Der Junge … hast du den jungen Soldaten gesehen? … Er war so schön, und so naiv … Bring ihn mir!«
    »Natürlich, natürlich«, beruhigte er sie milde. Er hängte ein orthodoxes Silberkreuz an die Tür, und auf das Fensterbrett,
hinter den Vorhang, stellte er eine kleine Ikone des heiligen Basilius. Er glaubte nicht, dass sie viel gegen die wilde, rasende Bestie halfen, in die sich seine Cousine verwandeln würde. Aber es war besser, als überhaupt keine Vorkehrungen zu treffen.
    »Ich bin bald zurück«, erklärte er ihr. »Solange du noch bei Sinnen bist, möchte ich dir noch einmal klarmachen, wie wichtig diese Mission ist. Bring sie nicht in Gefahr, indem du dich sehen lässt.«
    Natalia warf sich gegen das Metall und jaulte jedes Mal, wenn das Silber ihre Haut berührte. Er verschloss sein Herz. »Ich muss versuchen, mit dem Eisenbahner Freundschaft zu schließen«, sagte er, »um neue Informationen für den Grafen, deinen Liebhaber, zu erhalten.«
    »Bring mir den jungen Lieutenant!«, knurrte die Wölfin. Es war das letzte menschliche Geräusch, das sie bis Sonnenaufgang von sich geben würde.
     
    Claggart hatte für diese Nacht ein Rendezvous mit der Opernsängerin verabredet. Natürlich war sie niemals am bayerischen Königshof gewesen; zufällig wusste Claggart, dass sie in Council Bluffs, Iowa, geboren und aufgewachsen war. Er hatte sie erpresst, bis sie ihre Röcke gehoben und ihn daruntergelassen hatte.
    Aber der Anblick der Witwe Bryant ließ ihn wünschen, er hätte für diesen Abend keine Verabredung. Claggart hatte eine ausgezeichnete Nase, wenn es um Geld ging, und diese Witwe hatte etwas an sich … er hatte natürlich Gerüchte gehört … aber wie viel Gold war es wohl? Würde es sich lohnen, diese plumpe, wettergegerbte Frau zu umgarnen?
    Er saß ein paar Tische von ihr entfernt. Die Frau beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, bemerkte er. Gut. Die anderen waren offensichtlich nicht ihre Freunde. Er witterte eine Chance.
    Wenig später beobachtete er, wie sie mit einer Goldmünze bezahlte.
    Er wollte sich ihr gerade nähern, da sah er den Russen die
Treppe wieder herunterkommen. »Gott strafe alle Russen«, murmelte er leise.
    Dann beschloss er: Ich werde Amelia einfach nicht verraten, dass ich heute Nacht nicht in dem Zimmer schlafe! Soll der Russe sie doch haben, wenn er sie verkraften kann!
    Er fing den Blick der Witwe Bryant auf und lächelte sie an. Sie schaute weg. Er näherte sich wieder ein Stück. Die Masche mit den gezinkten Karten und dem Geldwechsel war vergessen. Hier ging es um mehr.
    Er sah, dass sie wieder aufschaute. Sie war einsam, das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich war sie immer einsam gewesen. Der Gatte hatte sich nie ordentlich um sie gekümmert, war viel zu sehr damit beschäftigt, nach den gelben Steinchen zu suchen. Er lockte sie mit dem Finger. Sein Gelenk schabte an dem blutigen Taschentuch, mit dem er die Wunde verbunden hatte.
    Sie schaute weg. Er wartete. Noch einmal, dachte er, nur noch ein einziger Blick, dann tanzt sie nach meiner Pfeife. Seit zwanzig Jahren verkaufe ich Heilmittel, und ich weiß, dass ich das richtige Rezept für dich habe, mein Liebling - genau zwischen meinen Beinen.

8
    Österreich
    Vollmond
     
    Johnny Kindreds Innenwelt glich einem Wald: nicht jenem Bilderbuchwald eines Märchenbuches, sondern einem Wald voller knorriger, vor Zorn verkrümmter Bäume, erstickender Schlingpflanzen, Erde, die scharf nach Pisse und Fäulnis roch; dieser Wald war dunkel und beklemmend. Genau in der Mitte des Waldes lag eine Lichtung. Dieser Kreis war das Zentrum der
Welt, und er lag in ewig gleichem, bleichem Mondlicht gebadet. Wenn er in diesem Lichtkreis stand, konnte er die Außenwelt sehen, hören, berühren, riechen. Dann kontrollierte er den Körper. Aber er musste immer die anderen abwehren. Vor allem Jonas.
    Und sobald er müde wurde, versammelten sie sich rund um die Lichtung, hungerten nach Licht. Alle wollten die Welt draußen berühren. Den Körper beherrschen.
    Im Augenblick war die Lichtung leer. Der Körper schlief.
    »Lass mich durch«, sagte Johnny schwach.
    Die Dunkelheit wich zurück. Die Schlingpflanzen glitten beiseite. Und ständig heulten

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