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Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition)

Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition)

Titel: Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Gray
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Bewohnern oder den Häusern, die einem Besucher ein ganz bestimmtes Gefühl vermitteln. Meistens erschöpft sich dieses Gefühl ja nur in Langeweile oder Öde.
    Doch an dieser Stadt stimmte etwas nicht. Diese Stadt vermittelte mir das Gefühl, als liefe ich einen langen düsteren Gang hinunter, dessen Türen jedes Mal zuschlugen, sobald ich mich ihnen näherte.
    Plötzlich Kirchenglocken. Und an einer Häuserwand, die Aufschrift LUFTSCHUTZRAUM, die mir wie feine Nadeln in die Augen stach.
    Auch Max muss dieses merkwürdige Gefühl gehabt haben. Seine Bewegungen wurden langsamer. Die Blicke unruhiger, so als suchte er hinter Fenstern, dem Bürgersteig, oder in Hauseingängen nach einer Bedrohung wo keine war.
    Schließlich der Marktplatz, gesäumt von Rathaus, Kirche, Apotheke, Sparkasse und einem Wirtshaus mit verschlossenen Fensterläden. Die Kirche wuchtig und alt, direkt gegenüber dem grazilen Rathaus, vor dem ein geflaggter Fahnenmast stand. Und auf dessen Balkon etwas stand, das wie zwei Lautsprecher wirkte.
    Dann eine Marschkolonne, die in der Mündung einer Gasse auftauchte.
    Lauter Jungen in aus Wehrmachts– und HJ-Beständen zusammen gestückelten Uniformen. Keiner der älter als sechzehn, siebzehn Jahre war.
    Die Prätorianer des Kreisleiters, die unterm Fahnenmast Aufstellung nahmen. Ein knapper Befehl: die Jungen standen stramm. Ihre Augen stur geradeaus aufs Kirchenportal ausgerichtet.
    Zuerst ein Brummen aus den Lautsprechern, das plötzlich unvermittelt von schmissiger Marschmusik abgelöst wurde.
    WIR WERDEN WEITERMARSCHIEREN / WENN DIE GANZE WELT IN SCHERBEN FÄLLT - ein deutscher Militärchor mit allem was dazu gehört.
    Gegenüber öffnete sich die Kirchentür. Gottesdienstbesucher, die zwischen ihren schweren Flügeln hervorquollen.
    Keine Männer darunter. Nur Frauen, kleine Kinder und ein paar mühsam keuchende Alte.
    Die Marschmusik wurde unterbrochen. Danach muss irgendetwas schief gelaufen sein:
    VOR DER KASERNE VOR DEM GROßEN TOR / STEHT EINE LATERNE UND STEHT SIE NOCH DAVOR / SO WOLLN WIR UNS DA WIEDERSEHN/ WIE EINST LILLI MARLEN
    Die Jungen wurden nervös. Wieder ein Befehl. Nichts tat sich. Aus den Lautsprechern immer noch Lilli Marlen: 
    AUS DEM STILLEN RAUME/ AUS DER ERDE BUNT/ HEBT MICH WIE IM TRAUME DEIN VERLIEBTER MUND
    Die Jungen vorm Rathausportal salutierten ihrer schlaff in frostiger Dämmerung hängenden Fahne.
    DA WÜRD BEI DER LATERNE STEHN/ MIT DIR LILLI MARLEN.
    Dieses Bild werde ich nie vergessen: die Jungen, die Fahne und die Stimme von Lale Andersen, die von Kasernen und toten Soldaten sang. Es war so surreal. Ein Bild aus einem Traum, den man nie zu träumen wagte.
    Irgendwann brach die Musik schließlich ab. Nur noch Knistern und Rauschen. Der Himmel begann weiche Schneeflocken zu spucken. Der Nachklang der Musik, Schnee, Glocken, das Knistern in den Lautsprechern – weißes, zielloses Rauschen, das mich in sich hinein zu saugen schien.
    Ein letzter Befehl. Die Reihen der Jungen lösten sich auf. Selbst am Abend vor Weihnachten hatten sie ihren Fahnenappell zur selben Zeit abgehalten wie der Pfarrer den Gottesdienst.
    Max trieb die Pferde an. Der Wagen rollte durch die Traube der Gottesdienstbesucher. Ich habe ihre Gesichter gesehen. Sie wirkten wie die von Gefangenen. Nicht immer brauchst du Zellen, Gitter oder Stacheldraht, um Menschen gefangen zu halten. Manchmal tut es auch Angst.
    Nur eine alte Frau fiel aus der Masse der Gottesdienstbesucher heraus. Sie starrte eine Weile zu den Jungen gegenüber – dann bekreuzigte sie sich verstohlen. Was merkwürdig war, denn ihr Priester war Protestant.
    Vielleicht traute sie ihrem Gott immer noch zu, dass er eines Tages ihre Gebete erhören würde. 
    Ich wusste es besser: Götter sind Voyeure, keine Bediensteten. Und was sie antreibt ist aller höchstens Neugier, nicht Mitgefühl.
    Der Gott, in dessen Namen die Alte eben ihr Kreuz über Stirn und Brust geschlagen hatte, stand auf ihrer Seite ebenso, wie auf der der Jungen. Die sich vorm Fahnenmast über die Gottesdienstbesucher lustig machten. So gesehen waren beide Veranstaltungen lächerlich: die Alte mit ihrem Kreuz wie die Jungen, die mit Marschmusik und Fahne sich selbst bewiesen, wer die Macht in der Stadt hatte.

PARIS / 1969
     
    „ Und die haben da wirklich Lilli Marlen gespielt?“.
    „ Haben sie. Aber frag mich nur nicht wieso.“
    „ Meine Mutter hat eine Weile gegenüber einer Bar gewohnt. Das war ganz kurz nach dem Krieg. Eine Menge GIs sind damals von

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