Wolfswechsel - Aktionspreis für begrenzte Zeit (German Edition)
klammes Heu vor die Mäuler. Lustlos begannen sie daran herumzuknabbern. Dann trug ich den toten Jungen von der Zufahrt in den Hof, legte ihn auf einen Tisch im Pferdestall, anschliessend löste ich Steffens von der Stalltür, auf der man ihn gekreuzigt hatte, und schleifte ihn neben den Jungen in den Stall.
Als Catherina zurückkam, trug sie weiße Laken über dem Arm, in die wir die Toten einschlugen. Steffens Gesicht hatte trotz der Entstellungen beinah einen friedlichen Ausdruck angenommen. An Max war nichts mehr, das an den Jungen erinnerte, den wir beide gekannt, und jeder auf unsere Art im Stich gelassen hatten.
Catherina verschwand, tauchte gleich darauf mit Hacke und Schaufel wieder auf. Wortlos lehnte sie sie im Hof neben der Stalltür an die Wand.
„ Mach sie tief, Hauptmann. Ich will nicht, dass irgendwelche hungrigen Tiere sie wieder ausscharren. Auf der Hügelkuppe hinterm Haus. Das war Max Lieblingsplatz. Dort hat er im Sommer gesessen und gemalt.“
Ich machte mich zum Hügel auf. Für ein paar Augenblicke brach die Sonne fahl und kraftlos durch den Hochnebel. Eine verspätete Eule zog hoch über mir hinweg zum Waldrand.
Ich schlug die Hacke in den gefrorenen Boden. Wieder und wieder. Bald stand ich bis über die Knie in der Grube.
Sie tauchte beim Hügel auf. Stand lange still einige Meter entfernt von mir und starrte schweigend zum Wald hinüber. Wind spielte in ihrem Haar. Noch immer trug sie den Mantel des Hauptmanns.
Sie folgte mir nicht, als ich die Gruben für tief genug befand und mich zurück zum Hof aufmachte. Ich holte die beiden Pferde aus ihrer Box. Legte ihnen Decken auf und Zügel an, hievte dann Max und Steffens starren Überreste auf den Rücken der Pferde.
Ein unwürdiger Leichenzug: ein Mann mit vor bräunlich schwarzer Erde starrendem Hemd und Hosen, zwei unwillige Pferde hinter sich her über Hof und Koppel zum Hügel führend.
Sie schaute mir den ganzen langen Weg vom Hof über die Koppel bis zum Hügel zu. Trat erst herbei, als ich mich daran machte die Pferde von ihrer Last zu befreien.
Ich griff nach der Schaufel. Doch Catherina hielt mich mit einer knappen Geste zurück. Senkte einen Moment den Kopf, faltete dann die Hände.
Einen Moment blieb sie in sich versunken so stehen. Dann fielen ihre Hände kraftlos an ihr herab. Sie hob den Kopf, starrte mit weiten Augen in den frostig grauen Himmel.
„ DER HERR IST MEIN HIRTE/ MIR WIRD NICHTS MANGELN/ ER WEIDET MICH AUF GRÜNER AUE/ UND FÜHRET MICH ZU FRISCHEM WASSER/ UND OB ICH SCHON WANDERTE IM FINSTREN TAL, FÜRCHTE ICH KEIN UNGLÜCK/ DENN DU BIST BEI MIR / DEIN STECKEN UND STAB TRÖSTEN MICH.“
Das war kein Gebet, sondern eine Klage gegen die Welt.
„ DU BEREITEST MIR EINEN TISCH IM ANGESICHT MEINER FEINDE/ DU SALBEST MEIN HAUPT MIT ÖL UND SCHENKEST MIR VOLL EIN /GUTES UND BARMHERZIGKEIT WERDEN MIR FOLGEN MEIN LEBEN LANG /UND ICH WERDE BLEIBEN IM HAUSE DES HERRN IMMERDAR. AMEN.“
Mir sind Götter mein Leben lang fremd geblieben. Catherina glaubte hingegen wohl tatsächlich an ihren Gott. Jedenfalls bis zu diesem Weihnachtsmorgen 1944. Ich hörte ihr Vaterunser. Ich sah die Leere in ihren Augen. Wer, oder was immer der Gott sein mochte, den sie um Gnade für ihre Toten bat - ich weiß, dass er vor dem, was er in jenem Moment in ihrem Herz gesehen haben musste, erschrak. Weder Frieden noch Versöhnung lagen in der Stille, die ihrem Gebet folgte.
Ich griff nach der Schaufel und begann Schlag um Schlag Erde auf die Laken zu häufen. Sie stand dabei und sah zu. Solange stumm, bis die letzte Schaufel Erde an ihrem Platz war.
Sobald die beiden Gräber sich als sanfte Hügel über Schnee und Gras erhoben, trat ich neben sie. Frostig spielte der Wind über mein Gesicht. Ich sah den Wald. Den Schnee. Erinnerte mich an die Farben des Frühjahrs. Erinnerte mich an die Städte, in denen ich gelebt hatte und die Zeit, als ich ein kleiner Junge war. Die alten Männer mit ihren Hüten und hellen Schals bei der Beerdigung irgendeines Onkels. Plötzlich stiegen die Worte, die einer der alten Männer mit kratziger Stimme am Grab jenes Onkels rezitierte, wieder in mir herauf. Ich wusste, was sie bedeuteten: Kaddisch, die jüdische Bitte um Frieden, Ruhe, Verzeihen und Versöhnung für die Toten.
Zu einem Kaddisch gehörte eine Minjan, eine Gruppe von zehn Männern. Aber ich war allein. Und woran immer Steffens und Max geglaubt haben mochten – gewiss war es nicht der Gott des Kaddisch. Trotzdem legte ich,
Weitere Kostenlose Bücher