Wolkenfern (German Edition)
aus Porzellan und einen Holzschnitt, der eine schlanke Frau im Kimono zeigte, denn plötzlich und zum ersten Mal in ihrem Leben dachte Eulalia an so etwas wie ihr eigenes Zuhause, eine Wand, an die sie den gerahmten Holzschnitt hängen konnte, einen Tisch, auf dem sie Tee in dem Service aus Yokohama ausschenken könnte. In der feuchten Luft der Hafenstadt begannen sich ihre dünnen Haare zu kräuseln, und ihr Gesicht bekam Farbe, sie lernte ein paar Worte Japanisch, und wenn sie etwas besonders Interessantes sah, zeigte sie, auf Leo Barrons Arm gestützt, mit der Hand darauf. In dieser Zeit unternahm ihr Vater zwei erfolglose Versuche, aus dem Leben zu scheiden – einmal durch eine Lungenentzündung, dann durch eine Magengrippe, doch beide Male heilte ihn ein japanischer Arzt, der kein Wort in einer der Sprachen verstand, die Herr Meisels beherrschte, was für den Patienten besonders deshalb ärgerlich war, weil er dem Arzt unbedingt klarmachen wollte, dass er am Gesundwerden keinerlei Interesse hatte. Der Arzt in weißem Kittel, gestreiften Hosen und weißen Socken nickte nur, verbeugte sich, lächelte und gab ihm eine Mixtur zu trinken, deren Einnahme Eulalia überwachte. Als Feliks Meisels sich so weit erholt hatte, dass er aufstehen konnte, rasierte er sich, kleidete sich an, schrieb einen Brief an seine Tochter und ging bei Tagesanbruch zum Hafen, wo er ohne Umschweife ins Wasser sprang. An diesem zweiten Verlust wäre Eulalia, die inzwischen zehn Kilo abgenommen hatte und an den Schläfen ergraut war, vielleicht zerbrochen, doch Leo Barron war immer um sie und stützte sie mit stiller Entschlossenheit. Du musst durchhalten, sagte er ihr immer wieder und küsste sie, wenn sie fragte: Wozu?
Ein gutes Jahr nach diesem Ereignis wohnte Eulalia Meisels, eine Waise, deren Mutter in Kowno und deren Vater in Yokohama begraben lag, in New York und hütete im Metropolitan Museum die Exponate der Antikensammlung. Als sich die frisch verheirateten Eheleute im siebten Stock des Hauses Mimosa eingerichtet hatten und sich in die neuen Sessel setzten, um beim Tee zu entspannen, blitzte alles ringsum vor Sauberkeit. Ein neues Leben, seufzte Leo Barron zufrieden und griff nach der Hand seiner Frau, doch Eulalia wurde in diesem Moment so heftig von Sehnsucht nach ihrem alten Leben überfallen, dass sie Schüttelfrost bekam und mit den Zähnen klapperte. Die frisch gestrichene Wohnung erschien ihr plötzlich so grau, als sei sie mit Asche überzogen, der untrügliche Geruch nach Verbranntem stieg ihr durch den Farb- und Bohnerwachsdunst in die Nase. Die Hand ihres Mannes kam ihr kalt und leichenhaft vor und stieß sie ab. Eine schwere Last sank auf ihre Brust, die sie, das wusste sie genau, erdrücken und in dieser aschfarbenen Öde begraben würde, wenn sie sich nicht sofort das Muster ihrer Lieblingstasse in Erinnerung rief, die in der Wohnung an der Studencka Straße geblieben war. Vergissmeinnicht mit blassen Blütenblättern, jawohl, Vergissmeinnicht, an dieses Bild klammerte sie sich wie an eine Leine, mit deren Hilfe sie an die Oberfläche gelangen konnte, doch sie wusste, dass dieses neue Leben nichts für sie war. Mit schrecklicher und unerschütterlicher Gewissheit wusste Eulalia Barron, dass sie von dieser Sehnsucht nie geheilt werden konnte. Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte Eulalia nicht überleben wollen, um zu leben, sondern um sich zu erinnern, und das, was war, ihr Mann eingeschlossen, hatte weder eine Realität noch eine Bedeutung für sie. Erinnern, gedenken, sich in Erinnerungen ergehen – Eulalia Barron kennt alle Spielarten dieser Worte, und zum eigenen Gebrauch hat sie ganz neue dazu erdacht: sich vererinnern, sich beerinnern, erinnerungeln, sich zerinnern.
Neben Icek Kac ist Dominika eines der wenigen Abenteuer, die Eulalia Barron in ihrem New Yorker Leben des Erinnerns, Gedenkens, Andenkens zugestoßen sind. Sie hört Dominikas Stimme und denkt an die Treppenstufen, Treppenstufen wie im Metropolitan Museum, auf jeder Treppenstufe bleibt sie stehen und lauscht auf die Stimme des Mädchens, das ihre Enkelin sein könnte, natürlich nur, wenn Eulalia Kinder und diese wiederum Kinder gehabt hätten. So schön liest sie die Odyssee !
So segelten wir weiter und kamen zur Insel Aeaea, wo Kirke lebt.
Eulalia, die Spezialistin fürs Erinnern, kann sich jedoch nicht mehr auf den Moment besinnen, als Dominika aufhörte, nur sanfte, vertraute Stimme zu sein und zu einer ihr nahestehenden, sehnsüchtig erwarteten
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