Wolkenfern (German Edition)
übernehmen, oder besser gesagt, es war eher ein Traum als eine Vorstellung gewesen, und da er daran gewöhnt war, dass Träume nicht dazu da sind, um wahr zu werden, fand er sich schnell mit der Wahl seiner Tochter ab und ordnete sie in seine Welt ein. Der Arztberuf war das Einzige, was ihn mit seiner Tochter verband, und ihre Unterhaltungen waren wie die von zwei Anglern am Wasser. Und, wie geht’s so?, fragte der Vater. Geht so, sagte die Tochter, oder Nicht so toll, wenn es ihr schlechtging. Sie redeten nie über private Dinge, und die persönlichste Frage, die der Vater stellte, war dieses Und, wie geht’s so? Sie fragte nach ihrer Mutter, die wenig sagte und immer auf dem Karussell zwischen Psychiatrie, Entzug und Zuhause war. Wie immer, sagte dann Doktor Lipka, und damit hatten sie dieses Thema erschöpft. Doktor Lipka hatte seine Tochter in London besucht, und er tat so, als gefalle ihm die Stadt, in der er nach einer Stunde schon Kopfschmerzen bekam, weil ringsum zu viele Leute, Gerüche, unbekannte Dinge waren, die zu schnell und gegen den Strom seiner Gewohnheiten vorübertrieben. Małgosia war in diesen Jahren nur zweimal in Polen gewesen, beide Male in Eile, unterwegs von einem wichtigen Irgendwo zu einem noch wichtigeren Anderswo, zwei Orte, zwischen denen Wałbrzych nur eine Art lästiger Umsteigebahnhof war, wo man etwas warten musste und dabei einen faden Tee in der Bahnhofsgaststätte trank. Ach, Dominika kommt, sagte seine Tochter, und ihr Ton dabei, der nicht zu ihrer Routineunterhaltung passte, störte Doktor Lipka und freute ihn zugleich. Er war kein bisschen erstaunt, als Małgosia drei Tage vor Weihnachten anrief, um zu sagen, es geht sich grad so aus bei mir, ich komme. Nein, du brauchst mich nicht abzuholen, ich kann in Wrocław ein Auto mieten.
Doktor Lipka war sich bewusst, dass seine Tochter ihn nie um etwas bat und dass sich das auch nicht mehr ändern würde, denn er hatte den Moment versäumt, in dem er ihr etwas hätte geben können. Außer Geld wäre ihm sowieso nichts eingefallen. Sie war Ärztin geworden, das kam ihm ganz natürlich vor, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass er, seiner eigenen Meinung nach als Vater ein Versager, für sie eine Inspiration gewesen war. Es ist seine Schuld, dass sie so eine ist. Seine Frau war nie zu etwas nütze gewesen, er aber hätte etwas ausrichten können, verdammt noch mal, ja, das hätte er. So eine, sagt er, das Wort Lesbe würde ihm nie über die Lippen kommen, und wenn es mal vorkam, dass sich in einem unachtsamen Augenblick dieses Wort in seinem Mund formen wollte, drückte er es zwischen Zunge und Gaumen platt. Seit mehreren Jahren nun sprang dieses Wort ihn unversehens aus Fernsehen und Zeitungen an, kaum hatte er seinen großen neuen Prachtfernseher eingeschaltet oder die Zeitung aufgeschlagen, schon zischte es Lesssbe um seine Wade und kroch unter der Trainingshose an seinem Bein hoch, im nächsten Moment würde es ein Unglück geben. Doktor Lipka versuchte, etwas über Lesben und Schwule, wie man das heute nannte, zu lesen, doch sofort schoss dann sein Blutdruck in die Höhe und ihm wurde schwindlig. Małgosia hat in England eine gute Stelle, sie macht ihren Doktor, erzählte er seinen Bekannten, die hinterher sowieso tuschelten, die ist doch vor der Mutter weggelaufen, hat’s nicht mehr ausgehalten, wozu behält der Doktor Lipka diese durchgeknallte Alte im Haus, soll er sie in die Klapse geben und eine normale Frau nehmen. Außerdem wusste ja jeder, dass seine Tochter ein Homodingsbums war, sonst wär sie doch längst verheiratet, eine Ärztin mit Stelle in London braucht nicht lang nach einem Mann zu suchen.
Wenn Doktor Lipka seine Tochter anruft, ertönt die Stimme des Anrufbeantworters auf Englisch, manchmal auch statt Małgosias Stimme die einer anderen Frau, die dann, ratlos über sein unbeholfenes Englisch, nach »Margo« ruft oder sagt, Margo ist nicht da, ich bin Jenn, Jill, Carla, sehr angenehm, Jenn, Jill, Carla, leck mich am Arsch, Doktor Lipka zieht eine Grimasse.
In diesem Jahr bringt Małgosia noch mehr Geschenke mit als beim letzten Mal, als wolle sie damit den wahren Grund ihres Besuches in Wałbrzych tarnen, und sie sagt nicht schon beim Betreten des Hauses, sie müsse gleich wieder weg. Sie besprühte ihre benebelte Mutter mit Dior Parfüm, bis der Alkoholgeruch Leben in sie brachte, zeigte Fotos von ihren Urlauben mit Jenn, Jill, Carla in Belize, Kyoto, in der Sahara, am Kilimandscharo, hielt
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