Wolkenfern (German Edition)
intolerante Eltern zu verteidigen. Sie überredet sie zu Psychotherapien und hält ihnen beim Zahnarzt die Hand, ist immer aufmerksam und hilfsbereit, wenn man sie braucht oder wenn sie meint, gebraucht zu werden. Und wenn sich die von Małgosia bemutterten Frauen von ihrem Zusammenbruch, ihrer Agoraphobie oder Anorexie erholt haben, oder wenn sie beschließen, sich lieber mit Waisenkindern in Kambodscha zu befassen, als ihre Dissertation zu schreiben, oder ihren Konflikt zwischen Geld und Berufung entschieden haben, verschwinden sie. Sie sagen dann, Małgosia erdrücke sie und lasse ihnen keine Luft zum Atmen mit ihrer Fürsorglichkeit, sie sei wie eine Mutter, die zu viel gibt, und Małgosia ist wieder allein. Und du?, fragt sie Dominika. Ich bin gern allein, sagt Dominika, ich hab keine Lebensgefährten, nur ab und zu Reisegefährten. Eingemummt in dicke Jacken, Schals und Mützen, ziehen sie abwechselnd an einem Joint, immer weiter fällt Schnee, und wie vor Jahren riecht er auch jetzt nach Kohlenstaub. Dominika streckt die Zunge heraus und fängt Schneeflocken auf. Bist du wirklich gern allein?, fragt Małgosia nach. Ja. Dominikas Zunge ist rosa und komisch, sie spürt, dass Małgosia sie anstarrt, sie rollt sie an den Seiten auf zu einem Röhrchen, als wolle sie ein Zeichen geben, dass es immer noch sie ist, fast dieselbe wie damals. Wo ist deine Sara denn jetzt?, fragt Małgosia. Sara ist in New York geblieben. Der New Yorker Schnee lässt sich mit dem Wałbrzycher nicht vergleichen, stellt Dominika fest, richtiger Schnee muss einen leichten Beigeschmack von Kohlenstaub haben. Aber das weiß man erst, wenn man woanders ist. Im East Village, wo ich gewohnt habe, fällt gelber Schnee, der nach Pisse riecht. Wenn es in London schneit, sagt Małgosia, dann gerät alles in Panik, die Busse bleiben stehen, die Schulen werden geschlossen, im Krankenhaus haben wir Dienst rund um die Uhr. Aber du hast recht, kein Schnee kann sich mit dem Wałbrzycher Kohleschnee messen. Małgosia klopft Dominika unbeholfen auf die Schulter. Gut, dass wir uns jetzt getroffen haben, sagt sie dann. Ich hab oft an dich gedacht, aber ich kannte deine Adresse ja nicht. Ich hatte auch keine Adresse, antwortet Dominika lachend. Wenn du an einen Ort geschrieben hättest, wäre der Brief bei jemandem anders angekommen, es hätte Verwirrung gegeben, wenn dieser Jemand dann womöglich gemeint hätte, er sei ich. Gut, dass ich erfahren habe, dass du kommst, sagt Małgosia. Ja, das stimmt. Dominika nickt bestätigend und bläst eine Rauchwolke aus.
Von ihrem Vater hatte Małgosia erfahren, dass Dominika kommen würde, zwischen einem Satz über den seit Jahren unverändert hoffnungslosen Zustand ihrer Mutter und einem Satz über den sich allmählich bessernden Zustand der Medizin in Polen erwähnte Doktor Lipka nebenbei, angeblich komme die Chmura zu Weihnachten nach Wałbrzych. Patientinnen hätten ihm berichtet, dass ihre Mutter überall herumerzählte, ihre Tochter komme aus Amerika, ihr gehe es dort prächtig, Dollars, Verlobter, Autos und dergleichen.
Doktor Lipka war immer noch am selben Ort in Szczawienko, sein einziges Kind, die Tochter Małgosia, die in ihm ebenso viel Stolz wie Unwillen weckte, war ebenfalls Ärztin und meistens in London. Dominika?, fragte Małgosia. Wie sie Doktor Lipka gegen den Strich ging, diese tiefe, ruhige Stimme seiner Tochter, die bei dieser Frage ein wenig ins Zittern geriet – und wie sehr sie ihm gleichzeitig fehlte. Er kannte die nörgelnde Stimme seiner Frau, die trotz oder vielleicht auch dank ihrem hohen Konsum an Psychopharmaka und Alkohol immer noch lebte, er kannte die Stimmen seiner Patientinnen, entsetzt über Schwangerschaft oder Tumor, freudig erregt über Schwangerschaft oder Nicht-Tumor, doch die Stimme seiner Tochter verblüffte ihn immer wieder mit ihrer Mischung von Fraulichkeit und Männlichkeit, die in seiner Welt getrennt waren. Dominika, sagte seine Tochter. Sie heißt Dominika mit Vornamen, Papa. Ach ja, stimmt. Doktor Lipka tat, als erinnere er sich erst jetzt an den Vornamen dieses langbeinigen Mädchens, das in der Schule mit seiner Tochter befreundet gewesen war. Er hatte gesehen, mit welchen Augen Małgosia sie ansah! Er konnte ein Mädchen so angucken, aber nicht seine Tochter, das stellte doch alles auf den Kopf. Er hatte sich vorgestellt, Małgosia würde nach dem Medizinstudium nach Wałbrzych zurückkehren, sie würden anfangs zusammen arbeiten, dann würde sie die Praxis
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