Wolkenfern (German Edition)
alles gleichzeitig anfing und aufhörte.
Ich bin aus Polen geflohen, mit meiner Mutter Alina, einer Pianistin, und meinem Vater Feliks Meisels, einem Rechtsanwalt, auf einem großen Umweg über Litauen, Russland und Japan … Mit diesen Worten begann der erste Abschnitt der Geschichte von Frau Eulalia Barron, und Dominika unterbrach die Lektüre, um Jadzia zu rufen.
Komm, Mama, ich lese dir die Geschichte von Eulalia Barron vor!
Jadzia, die vor Neugier dem Platzen nahe um Dominika herumstrich, während diese Frau Eulalias Brief las, setzte sich und faltete die Hände über ihrem ansehnlichen, von ihr als Ersatzreifen bezeichneten Bauch. Über Napoleons Nachttopf hinweg schaute sie ihr sonderbares Kind an. Wie schön ihr die Haare nachgewachsen waren, dachte sie. Die Januarsonne schien durchs Fenster, und die Reste des Blattgolds erstrahlten in solchem Glanz, dass Jadzias Hoffnung wiederauflebte – vielleicht ließe sich dieses seltsame Erbstück doch in ein Sümmchen verwandeln? Nun, es war zwar kein Familiensilber, aber man könnte es hübsch aufpolieren und in den Antiquitätenladen am Markt in Wałbrzych bringen. Sie unterbrach ihre Tochter nicht und reagierte auf ihre Art und Weise, verdrehte die Augen entsetzt, als es um die Flucht der jüdischen Familie aus Krakau ging, und flüsterte heilige Muttergottes! beim Tod von Eulalia Barrons Mutter Alina Meisels und dem Selbstmord ihres Vaters Feliks im trüben Wasser eines japanischen Hafens. Japan! Heilige Muttergottes, das ist ja weit von zu Hause weg! Sie schüttelte den Kopf, als es hieß, die Ehe von Eulalia und Leo Barron habe nicht gehalten, dabei schien er doch ein so liebenswerter Mann zu sein und sie hatten so viel zusammen durchgemacht, und als der Name Władzia Dziurska fiel, flackerte in Jadzias Augen ein unsicherer Schimmer des Erkennens auf. Sie hatte sich in der Genealogie ihrer Familie nie gut ausgekannt und wühlte ohnehin nicht gerne in Vergangenem, wie sie das nannte, doch sie erinnerte sich, dass ihre Oma Jadwiga aus Zalesie, die im Krieg ermordete Frau des Müllers, mit Mädchennamen Dziurska hieß und aus Tschenstochau kam. Konnte diese Władzia mit ihr verwandt gewesen sein? Jadzia versuchte, ihr Alter auszurechnen, um ihre Vermutung zu verwerfen oder zu erhärten, doch sie verlor schnell die Lust, denn wie meistens beim Rechnen kam sie auf kein Ergebnis, das einen Sinn ergab. Doch der irgendwie bekannte Name knüpfte an etwas an, durch Władzia Dziurska – egal ob es nun ihre Großtante gewesen war oder nicht – fühlte Jadzia eine Art Verwandtschaft mit der alten Frau aus New York. Sie wird dem Bild, das sie sich von Eulalia Barron macht, ein paar stärkere Akzente verleihen, bis sie ihrer Mutter Zofia gleicht, so wie diese gewesen wäre, wenn sie Jadzia mehr geliebt hätte. Die Geschichte von Eulalia Barron, die ihr durch ihren Mangel ausgesprochener Talente und Begabungen nicht ganz unähnlich war, wird Jadzia, je länger sie darüber nachsinnt, Ignacy Goldbaum näherbringen, ihrem leiblichen Vater. Bald beginnt sie zu überlegen, was und wie sie auf die Postkarten und Fotos antworten kann, die Ignacy Goldbaums Kinder ihr schicken. Ist es angebracht, ihnen ein Foto von sich zu schicken? Drinnen oder draußen aufgenommen? Eher fein oder alltäglich gekleidet? Es soll ja bloß nicht so aussehen, als ob sie sich extra aufgedonnert hat. Es wird aber noch einige Zeit vergehen, bis Jadzia so weit ist, dass sie tatsächlich sorgfältig ausgewählte und beschriebene Postkarten nach Amerika schickt, jetzt jedenfalls, da sie noch mit ihrer Tochter am Tisch sitzt und den in der Januarsonne strahlenden Nachttopf Napoleons betrachtet, gehen ihr andere, wichtigere Dinge durch den Kopf. Kind, da läuft es mir ganz kalt den Rücken herunter von solchen Geschichten, seufzt Jadzia und steht auf, um sich der Zubereitung des Mittagessens zuzuwenden, das von allen Wirren der Geschichte und unverhofften Erbstücken aus Amerika unberührt aus zwei Gängen und Nachtisch bestehen und zu einem festen Zeitpunkt auf den Tisch gebracht werden muss. Schon will sie die Schürze umbinden, um in ihrem Königreich Küche das Zepter zu schwingen, doch lässt ihr etwas keine Ruhe. Was meinst du, Kind, sagt sie zu Dominika, sollte ich diesen Nachttopf nicht doch besser schnell mit Domestos desinfizieren?
X
Ich komme, sagt Dominika zu Małgosia, als sie sich an einem frostklirrenden Januartag auf Piaskowa Góra von ihr verabschiedet; auf Umwegen zwar, aber ich
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