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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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niemanden mehr in meinem Leben, und das ist zu einem großen Teil meine Schuld. Deshalb möchte ich Dir meine Geschichte erzählen, ich spüre, dass du sie bewahren und für sie sorgen wirst. Habe ich Dir jemals gesagt, dass Du mich ein wenig an Władzia Dziurska erinnerst, das Mädchen, das mir Bücher vorlas, als ich ein Kind in Krakau war? Die Ähnlichkeit, die ich meine, ist schwer zu beschreiben, denn unsere Władzia war eine kleine, rundliche Blondine mit zu langen Armen und grünlichen Augen. Euch verbindet etwas anderes, das habe ich schon wahrgenommen, als Du mir beim ersten Mal die Stelle mit den Sirenen aus der Odyssee vorgelesen hast. Es kam mir vor, als wärest Du nach New York gekommen, um mich an Władzia zu erinnern. Dank Dir, das weiß ich, wird meine Geschichte am Leben bleiben. Den Nachttopf Napoleons, den ich Dir hiermit hinterlasse, habe ich von meinem Freund – ich kann ihn wohl als solchen bezeichnen – Icek Kac, der ein kleines Geschäft in Brooklyn hatte. Ich habe Dir sicher von ihm erzählt, obwohl ich selbst nicht viel über ihn weiß. Was mich mit ihm verbunden hat, waren Erinnerungen, die sich nicht verscheuchen ließen, die Ähnlichkeit unserer Erfahrung. Außerdem waren wir beide wortkarg, wir brauchten keine großen Worte, und die kleinen, unwichtigen waren den Aufwand des Redens nicht wert. Ich weiß nur, dass Icek diesen Nachttopf Napoleons in Polen von einer Frau bekam, die er liebte, die er aus den Augen verlor und sein Leben lang gesucht hat, ihren Namen weiß ich nicht. Ich kenne aus seinen Erzählungen nur einen Namen: Kamieńsk. Das ist eine kleine Stadt in Mittelpolen, zwischen Piotrków Trybunalski und Tschenstochau, vielleicht führt Dich das Schicksal dort eines Tages hin. Ich selbst bin nie dort gewesen. Icek Kac habe ich im Metropolitan Museum kennengelernt. Für meine Freundschaft mit ihm reichte es, dass wir gemeinsam die ägyptischen Mumien betrachteten, und nur einmal, eben vor diesen Mumien, hat er mir vom Nachttopf Napoleons erzählt. Nach seinem Tod bekam ich diesen komischen Gegenstand, er hatte ihn mir vererbt! Nichts sonst, kein Wort der Erklärung, nicht die geringste Anweisung, was ich mit diesem Ding tun sollte. Ich nehme an, Icek wollte mir auf diese Weise zu verstehen geben, dass ich seine Geschichte weitergeben sollte. Ich habe den Nachttopf als Blumentopf benutzt, und erst als Du auftauchtest, kam mir der Gedanke, dass Icek mir vielleicht eine Botschaft hatte überbringen wollen, als er ihn mir vermachte. Ich habe meine Bekannten im Museum gebeten, das Alter des Nachttopfs zu schätzen, und wie sich herausstellte, könnte er sehr wohl im Besitz des Kaisers der Franzosen gewesen sein. Solche eleganten Nachttöpfe wurden Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Łódź hergestellt, in der Werkstatt eines Dionizy Kołek, und sie müssen eine Zeitlang sehr in Mode gewesen sein, den Frauen gefielen die Szenen, die die blattgoldverzierten Flächen schmückten. Heute lässt sich nicht mehr sagen, was sie darstellten, mir scheint, dass auf dem Nachttopf die Umrisse von Tieren und Blumen zu erkennen sind. In der Ahnung des nahenden Todes, dem der Verlust meiner geistigen Kräfte sicher vorausgeht, tue ich das, was ich für meine Pflicht halte: Ich vermache Dir dieses Erinnerungsstück, mit dem Du tun kannst, was Du möchtest. Ich spüre die seltsame Gewissheit, dass es genau das Richtige sein wird. Ich habe den Eindruck, dass Du, ähnlich wie ich in meiner Jugend, kein Ziel brauchst und dennoch die Fähigkeit hast, das Reisen vom Sich-treiben-Lassen zu unterscheiden. Dominika auf Wanderschaft. Alte Menschen wissen, dass das Leben nicht geradlinig verläuft, obwohl es so scheinen mag, dass ausgerechnet sie nur in eine Richtung gehen können, nämlich geradeaus zum Tod. Kein Irrtum könnte größer sein.
    Das Leben besteht aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich, und das Problem war, dass wir, Icek und ich, uns ganz und gar der Vergangenheit verschrieben hatten. Die Geschichte, die ich Dir hier aufschreibe, ist der Versuch, den Weg aus dieser Vergangenheit heraus zu finden, ich hinterlasse sie Dir, denn Du hast die ganze Zukunft vor Dir. Vielleicht kannst Du sie jemandem laut vorlesen, so wie Du mir Bücher vorgelesen hast. Vielleicht willst Du sie auch einfach nur im Gedächtnis behalten. Verzeih, wenn ich mich nicht genau an die zeitliche Reihenfolge halte und mit dem anfange, mit dem jeder Vertriebene beginnen will, nämlich mit dem Augenblick, in dem

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