Wolkenfern (German Edition)
Doktorat, Professur, eine Veröffentlichung nach der anderen. In ihrem Kopf wäre alles nach einer Methode geordnet, wie einst die Bücher von Eulalia Barron; vielleicht hätte sie bereits eine weitere Primzahl entdeckt, vielleicht auch herausgefunden, nach welcher Regel ihr alle Zahlen mit der Quersumme sieben früher hellgrün wie der Winterhimmel über Wałbrzych erschienen waren.
Dominika erfüllte Małgosias Wunsch, doch so wie alle Veränderungen in ihrem Leben seit dem Unfall war auch dieser Schritt eher ein sanfter Übergang als ein Umsturz, ein Fließen, dem sie sich überließ. Ohne Bedauern gab sie die Arbeit in der Bar auf und konzentrierte sich auf ihre Bilder. Sie wusste, dass sie gut waren, das hatte sie von Anfang an gewusst, doch wusste sie auch, dass noch etwas fehlte, etwas, das sie nicht nur gut, sondern hervorragend machen würde. Sie verkaufte nicht schlecht, die Fotos kamen bei den Leuten an, vielleicht fanden sie in den Fotografien von verzerrten Spiegelbildern, Mauerritzen und menschlichen Körperteilen eine eigene Sehnsucht wieder, die bis dahin noch keine Gestalt gehabt hatte. Sie mochten die Porträts, auf denen nie das ganze Gesicht zu sehen war, manchmal sogar nur ein Stück Mund oder zwei Finger oder eine wehrlose Halsgrube und ein Ohrläppchen. Der Preis, den sie gewonnen hatte, bestand in einem Studienplatz an der Kunstakademie und dem dazugehörigen Stipendium; ohne Probleme fand sie sich unter den anderen Studenten und Studentinnen zurecht, da sie schon immer so ausgesehen hatte wie sie, ein schlankes Mädchen in Jeans und alter Lederjacke, mit der Kamera um den Hals und einer Tasche voller Arbeiten über der Schulter. Wenn jetzt Magister Helena Demon, der Fluch ihrer Grundschuljahre, sie gesehen hätte – sie wäre sprachlos darüber, dass es nicht nur in einer Klasse so viele Ausländer geben konnte, sondern auch die Lehrer zum Teil Ausländer waren!
An manchen Tagen fuhr Dominika kreuz und quer durch London und machte Fotos; sie konnte mit solcher Selbstvergessenheit ein bestimmtes Detail verfolgen, zum Beispiel die wechselhafte Landschaft verformter Gesichter und Gegenstände, die sich im glänzenden Knopf an der Tasche einer verschleierten Muslimin spiegelten, dass sie dieser durch die halbe Stadt hinterherfuhr, um schließlich in einer völlig unbekannten Gegend wieder zu sich zu kommen und einem verärgerten Pakistani beteuern zu müssen, dass sie seine Schwester ganz und gar nicht verfolge. Unweigerlich fand sie alle die verschämten Winkel und im Nichts endenden Sackgassen, die es in jeder Großstadt gibt, die von illegalen Einwanderern umlagerten Telefonzellen, an denen schreiende Telefonate mit der Heimat geführt werden, in Sprachen, die niemand lernen will; die Bänke, auf denen sich müde Frauen mit hässlichen Schuhen drängen, in hastige, nervöse Gespräche verstrickt, mit dem Blick von Menschen, die alles verloren haben oder nie etwas zu verlieren hatten; die fetttriefenden Döner für die Malocher auf den Baustellen und Müllplätzen und für die Arbeitslosen; die Schaufenster der nach Schimmel und billigen Süßigkeiten miefenden Läden, wo Aushänge für Leute aus Bangladesch, Polen, dem Senegal, Rumänien, Pakistan kleben. Diese Orte zogen Dominika magisch an, und sie brachte es fertig, aus dem Gewirr tausender Sprachen polnische Sätze herauszufischen, die sie in ihrem Gedächtnis aufbewahrte wie einen Sandberg der Wörter und zu denen sie später ein passendes Bild in ihren Arbeiten finden wollte; die zufällig herausgehörten Fragmente aus dem Leben – meine Liluś hat Tausende von Fotos, ein x-beliebiger Araber kommt mir nicht ins Haus, leg Zwiebeln unten drunter, dann sieht es nach mehr aus – waren Keime einer Geschichte, deren innerstes Wesen sie mit dem Objektiv einfangen wollte.
Müllmädchen, nannte Małgosia sie spöttisch. Was sammelst du da bloß – Realitätsschnipsel, Schrott aus dem normalen Leben, Bonbonpapierchen. Ach, und das sagt eine, die ganz normal ist! Małgosia, selbst stets zu Bekenntnissen und detaillierten Erörterungen bereit, zog der wortkargen Dominika Informationen über deren flüchtige Londoner Abenteuer aus der Nase. Wer ist er? Wo hast du ihn kennengelernt? Und wenn du schwanger wirst? Er ist Maler, kennengelernt hab ich ihn in der National Gallery, genau unter der Arnolfini-Hochzeit. Die Sache ist die, dass ich nichts weiter von ihm will. Dann weißt du vielleicht, wovor du Angst hast? Vielleicht habe ich Angst,
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