Wolkenfern (German Edition)
Arhodikon.
Der Nachmittag in Stoke Newington roch nach Frühling. Unterwegs spielte Dominika ein Spiel, an das sie sich aus ihrer Kindheit auf Piaskowa Góra erinnerte; Jadzia nannte es das Wenn-dann-Spiel. Wenn wir über die Straße kommen, bevor die Ampel umspringt, gibt es morgen schönes Wetter, wenn die Dame im grünen Mantel drüben bei der Auslage stehen bleibt, kaufe ich dir ein Eis, oder ernsthafter, wenn wir es bis zur Kirche schaffen, ohne auf die Fugen zwischen den Gehsteigplatten zu treten, gibt es die ganzen Sommerferien lang schönes Wetter. Und sogar – wenn wir auf dem Weg zu Oma Halina einen Mann mit Brille und zwei Frauen mit weißen Schuhen begegnen, wird uns alles gelingen. Man durfte mogeln, aber nur ein bisschen, anstatt einer der Frauen durfte es zur Not ein weiblich aussehender Junge in weißen Tennisschuhen sein; zur Not geht das, mogelte Jadzia, und jetzt tat Dominika dasselbe. Wenn ich bis zum griechischen Delikatessenladen Arhodikon eine Frau in Blau und einen schwarzen Mann mit Schirmmütze treffe, gehe ich bald von hier weg; und da geht ein schwarzer Mann mit Mütze, ein Wachmann aus dem Einkaufszentrum. Gut, das war zu leicht, aber wenn ich bis zum Fotogeschäft ein Zwillingsschwesternpaar und eine Frau mit Dackel treffe, dann gehe ich ganz sicher bald von hier weg an einen Ort, an dem ich noch nie war. Da ist eine Frau mit Dackel, ich kenne sie vom Sehen, sie ist Stewardess; guten Tag, grüßt Dominika. Zwillingsschwestern sieht sie nicht, keine Zwillingsschwestern, gibt es überhaupt welche in Stoke Newington? Da! Im letzten Moment, ja, tatsächlich – da sind sie! Aus dem Fotogeschäft, auf das Dominika zusteuert, kommen zwei Musliminnen in identischen Niqabs, schwarzen Gewändern, die nur die Augen frei lassen; sie können als Zwillinge durchgehen, wer soll schließlich beweisen, dass sie keine Zwillinge sind. Dominika folgt ihnen mit den Blicken und hört, wie zwei englische Teenager Witze über Fledermaus-Frauen machen.
Dominika kam mit Fotoabzügen, Halloumikäse und Granatäpfeln zurück; sie schloss die Tür auf und ging direkt in die Küche, um die Einkäufe bei Apostolea abzuliefern. Der kleine Junge war der Erste, den sie bemerkte. Der kleine Junge, der ihr vor Jahren im Tornister Rachatlukum mitgebracht hatte, zeigte beim Lächeln über seinem Teller mit Hühnerknochen große, sehr weiße Zähne. Mein Enkel Ted, stellte Apostolea ihn vor, und das ist Dimitri, der Schwager meiner Afroditi, fügte sie hinzu, und Dominika musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wen sie hinter ihrem Rücken erblicken würde.
Wie bist du hierhergekommen, Dominika Chmura?, fragte Dimitri, als sie unter dem Feigenbaum in Apostoleas Garten saßen, und diese einfache Frage genügte Dominika, um ihm von all den Jahren zu erzählen, die für sie wie eine ziellose Reise gewesen waren, voll seltsamer Begegnungen und Abenteuer. Dimitri war der erste Mensch, dem Dominika genau erzählte, was sie gemacht hatte, seit sie Piaskowa Góra verlassen hatte; in den zwei Wochen, die sie gemeinsam in London verbrachten, redete sie vielleicht mehr als in den ganzen zehn Jahren davor, und auch er erzählte eine Geschichte, die noch viel länger war. Nach dem Wegzug aus Wałbrzych waren Dimitri und seine Familie nach Westberlin gelangt, wo schon seit längerer Zeit der Bruder seines Vaters wohnte, Besitzer eines florierenden Restaurants. Dimitri hatte sich an das Leben in einem anderen Land gewöhnen müssen, das wieder nicht sein Heimatland war, und das fiel ihm leichter als seinen Eltern, die immer sehnsüchtiger über eine Rückkehr auf die Insel Karpathos sprachen; seit ihrer Jugend waren sie nicht mehr dort gewesen, und in ihren Erinnerungen wurde die Insel immer schöner, so wie der zypriotische Garten für Apostolea Ellinas. Anders als in Wałbrzych gab es in Berlin griechische Läden und Restaurants, man konnte Rachatlukum in verschiedenen Geschmacksrichtungen kaufen, doch Maria Angelopoulos, seine Mutter, rang die Hände, wie es ihre Art war, aus den hiesigen Rosen lasse sich kein Rosensirup machen und das Rachatlukum schmecke nur unter der griechischen Sonne, und das auch nicht unter jeder beliebigen, sondern unter der, die in Marias Heimatort Diafani knapp über den Berggipfeln in den letzten Minuten vor Sonnenuntergang leuchtete. Mein Sohn, schreib doch mal darüber, hatte sie zu Dimitri gesagt, schreib etwas über Karpathos, denn sie alterte allmählich und hatte Sorge, ihr Gedächtnis könnte
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