Wolkenfern (German Edition)
Teller mit siruptriefenden Mandeltörtchen auf den Küchentisch. Sie schiebt eine Schüssel voll Datteln neben die Törtchen und greift selbst immer wieder nach den Früchten, wobei sie das Gesicht verzieht, als schlucke sie Medizin. Georgi, ihr nichtsnutziger Sohn, ist wieder da gewesen, um sich Geld zu leihen, angeblich hat er außer den ehelichen noch ein uneheliches Kind, mit irgendeiner Engländerin, erzählt Apostolea. Dominika weiß nicht, ob Apostolea unglücklich darüber ist oder ob die Leidenschaften des Sohnes ihr eine gewisse finstere Genugtuung verschafften und sie einfach froh ist, ein weiteres Kind in der Familie zu haben. Noch einen dunkelhaarigen, großäugigen kleinen Jungen, den sie verhätscheln und mit gebratenen Hähnchen füttern kann, davon kann man nicht genug haben. Wenn er größer ist, wird er zu Apostolea kommen und nervös mit den Füßen scharrend am Tisch sitzen und nur auf das krönende Ende des Besuchs warten: die fünf Pfund, die seine Großmutter ihm zusteckt. Meine arme Mama, denkt Dominika, wie gern hätte sie eine so große Familie zum Jammern und Klagen und zum Zustecken von kleinen Geldscheinen gehabt. Dominika bringt die Namen und Gesichter von Apostoleas Enkeln durcheinander; allein Georgi, der in der Nähe wohnt und sich dauernd bei seiner Mutter Geld leiht, hat vier fast identische Söhne mit den großen traurigen Augen byzantinischer Ikonen und einem ungeheuren Appetit. Apostolea erzählt gern alle Geschichten mehrmals, die lustigen und die schrecklichen, beschwert sich über Georgi, der Geld beim Glücksspiel verliert, nachts Kebab isst, pfui, das machen die Türken, gar kein Essen ist das; sie klagt über die beiden Londoner Töchter, die von Sozialhilfe leben, die eine ist geschieden, die andere hat Gebärmutterprobleme, nur über Afroditi, die umgekommene Tochter, spricht sie selten, bei besonderen Gelegenheiten, als könne sie diesen Schmerz noch nicht in alltägliche Worte kleiden. Dominika weiß nur, dass von Apostoleas Kindern einzig Afroditi studiert hat. Sie heiratete einen Griechen, einen Juristen, den sie auf der Universität kennengelernt hatte, beide waren bei einem Flugzeugabsturz auf Zypern ums Leben gekommen. Sie wollten auf der Insel die Spuren ihrer Familie finden, Onkel und Tanten kennenlernen, Häuser und Gärten sehen, von denen Afroditis Mutter erzählt hatte; Apostoleas andere Kinder wären nie auf eine solche Idee gekommen. Afroditi ist Dominika gleich sympathisch, sie denkt darüber nach, was für eine Frau diese junge Griechin wohl gewesen sein mochte, die so gern wie sie selbst in der Vergangenheit gewühlt hatte. Afroditis Kind lebt jetzt bei seinem Onkel, dem Bruder des Ehemannes, einem Journalisten aus Berlin. Der kleine Ted ist schon fünf, ein hübscher und kluger Junge. Hübsch und klug, sagt Apostolea und seufzt, das Leben ist nicht leicht; drei Jahre ist es her, seit sie diesen wegen des Verlustes der Tochter so besonders geliebten Enkel gesehen hat. Das macht nichts, seufzt sie, wie immer, wenn sie auf etwas keinen Einfluss hat. Vielleicht kommen sie dieses Frühjahr nach London, das würde sie sich wünschen, Dominika macht dann ein Foto von ihnen. Ja, wirklich? Jawohl, das wird sie machen. Apostolea holt aus ihrem Zimmer ein Kleid aus kobaltblau schimmerndem Polyester, das sie zu diesem speziellen Anlass anziehen will, obwohl sie im Alltag ausschließlich Schwarz trägt. Apostolea weiß nicht, was Afroditis Sohn mag, aber gegen ein gebratenes Hähnchen wird er sicher nichts einzuwenden haben, wer mag denn nicht gebratene Hähnchen. Für alle Fälle hat sie eine ganze Gefriertruhe voll davon, wie damals, als ihr Mann noch lebte und alle Kinder zu Hause waren. Selbst Afroditi, immer auf Diät, sagte bei einem Stückchen Hähnchenbrust nicht Nein, nur die Haut hat sie immer abgezogen, erzählt Apostolea. In einem von Apostoleas unzähligen Familienalben hat Dominika ein Bild von Afroditi am Tag ihres Universitätsabschlusses gesehen, eine schöne Frau in Robe und mit Barett. Meine Afroditi, sagte Apostolea und seufzte wie immer, das Leben ist nicht leicht. Dominika erkannte auf dem Bild der jungen Frau nichts von der Ähnlichkeit mit ihr selbst, die für Apostolea auf den ersten Blick offensichtlich gewesen war, vielleicht eher mit der Person, zu der sie ohne Unfall hätte werden können. Sie könnte jetzt an einer mathematischen Fakultät lehren und hätte dann vielleicht das konzentrierte, ernste Gesicht einer Frau mit klarem Ziel:
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