Wolkenfern (German Edition)
Borowic darauf, dass die Teetanten mit dem Kind zu ihm kommen würden, um sich fotografieren zu lassen, und er sich davon überzeugen konnte, was dem Kind bevorstand. In Kamieńsk dachte man schon, mit den Einladungen zum Tee würde es jetzt ein Ende haben, als die Teetanten zum Entsetzen des Fabrikanten und gegen seinen Rat, den Balg ins Heim zu geben, das Findelkind an Kindes statt annahmen. Aber nein, weiterhin luden sie mal den Pfarrer Venantius Pielasa, mal den Apotheker und seine Gattin, mal den Fotografen Ludek Borowic und seine schöne traurige Frau ein und zeigten das Kind mit mütterlichem Stolz jedermann, als läge es auf der Hand, dass zwei ältere Jungfern, von denen man nicht wusste, ob sie Schwestern oder Cousinen waren, Mutter werden konnten. Der Fabrikant Antoni Mopsiński war darüber nicht erfreut, also so was, grollte er durch sein Haus, also so was! Seine Frau Josephine indessen wusste nicht, wie sie angesichts des Missfallens ihres Gatten mit ihrer eigenen Neugier und Freude umgehen sollte, und verlegte sich deshalb darauf, hellblaue Kleidungsstücke zu trikotieren, denn damals hielt man das für die Farbe, die zu Mädchen am besten passte. Sie schickte ihren Sohn Napi zur Napoleonhütte und lauschte begierig auf das, was ihr der kaum Zehnjährige zu berichten hatte, der sich im Übrigen bald unaufgefordert zu den Teetanten schlich, weil ihn eine seltsame Sehnsucht dorthin zog, die er nur am Anblick des kleinen Mädchens mit dem karamellfarbenen Haar und den glänzenden Augen stillen konnte. Grażynka!, erzählte Napi seiner Mutter, so eine Schwester oder Frau würde er gerne haben, denn sie sei die Schönste auf der Welt! Bald darauf eilte Josephine persönlich mit einem Armvoll trikotierter Kinderkleidung zur Napoleonhütte. Das ist unsere Grażynka!, verkündeten die Teetanten Josephine, so wie sie es auch allen anderen verkündet hatten.
Sie ließen ihrem Fund eine solche Zärtlichkeit angedeihen, als habe sich in diesem Fall ihre Begabung zu Mimikry und dem Erraten der Wünsche anderer in etwas verwandelt, das viel größer und besser war als jedes höfliche Entgegenkommen. Hingerissen, die Wangen vor Entzücken gerötet, standen sie an der Wiege und betrachteten das kleine Gesicht, die Makellosigkeit der Ohrmuscheln, die Weichheit der Locken. Musik beruhigte das Kind, deshalb sangen die Teetanten alle ihnen bekannten Lieder, wenngleich sie beide der Meinung waren, dass keine von ihnen Stimme oder Gehör dazu besaß. Grażynka aber liebte es, wenn sie zweistimmig schief »Die Liebe wird dir alles verzeihn« darboten oder »Ihr Kinderlein kommet« oder »Trink, Brüderlein trink«. Die Leute standen am Zaun der Napoleonhütte und lauschten verblüfft, wenn im Mai dort Weihnachtslieder ertönten, doch dieser Gesang war so vergnügt, dass sie selbst zu trällern begannen, und die Stimmen der Teetanten gingen ihnen danach noch lange durch den Kopf. Wenn die Teetanten den Leierkastenmann hörten, den mageren Mosche Witz, riefen sie ihn in den Garten, wo er sich unter den alten Walnussbaum stellte und spielte, während die beiden das glücklich glucksende Kind fragten: Das gefällt dir, nicht wahr? Und das auch? Der Leierkasten spielte Milonga-Tangos und Masurkas, spanische und jüdische Melodien, italienische und polnische, mal »Fräulein Mania spielt die Mandoline«, dann einen Marsch, einen Walzer, das »O sole mio«, wo es um Gondeln ging, und Grażynka klatschte so lange, bis die Sonne hinter der Kamionka unterging und der Leierkastenmann sich verabschiedete und weiterzog, den Arm ganz steif und lahm vom vielen Drehen. Unsere Grażynka, sagten die Teetanten, und die meisten Leute in Kamieńsk sagten ebenso »denen ihre Grażynka«, weil sie sich nicht entscheiden konnten, was sie stärker empfanden: Bewunderung für diese Tat der Barmherzigkeit oder Widerwillen gegenüber dieser neuen Absonderlichkeit der Bewohnerinnen der Napoleonhütte. Oft sah man Róża und Aniela in Kamieńsk, wie sie zwischen sich das pummelige kleine Mädchen an der Hand führten, das auf seinen immer schnelleren Beinchen manchmal vorauslief und – immer in der Mehrzahl – den beiden zurief: Teetanten!
Ludek Borowic beobachtete das Mädchen aus der Entfernung und wartete, er wusste, dass es unweigerlich geschehen würde, denn früher oder später kam jeder zu ihm in den Laden. Als nach mehreren Wochen der Streitigkeiten und des Hin und Her die Dokumente des Kindes auf den Namen Rozpuch ausgestellt wurden, denn
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