Wolkenfern (German Edition)
anderen Mädchen schenkte, ihre fast neuen Schuhe, die eines Frühlings in einem Zigeunerwagen verschwanden, weil eine alte Zigeunerin daran Gefallen gefunden hatte, obwohl diese sich dem Kind wenigstens mit einer ordentlichen Bratpfanne erkenntlich gezeigt hatte. Doch bevor Grażynka mit der Bratpfanne zu Hause ankam, traf sie Marianna Gwóźdź, die – welch ein Zufall – just eine solche Bratpfanne brauchte! Die Teetanten fassten sich an den Kopf und mussten manches Mal hinter Grażynka herlaufen, um ihrer Großzügigkeit Einhalt zu gebieten und ein Haushaltsgerät, den Sonntagsunterrock oder eine Golduhr zu retten, die sie gerade wegtrug; das ist doch ein Kreuz mit diesem Kind!, seufzten sie und strahlten übers ganze Gesicht. Also versteckten sie den Nachttopf und warteten auf einen Brief aus Amerika, doch ein ums andere Jahr verging, ohne dass Anweisungen bezüglich des Nachttopfs eintrafen, und allmählich glaubten die Teetanten, ähnlich wie Antoni Mopsiński, dass dieser Gegenstand nicht durch Zufall in ihre Hände geraten war. Na, wir werden sehen, seufzten sie bei der jährlichen Begutachtung des Nachttopfs, die meistens vor der neuen Kohlernte stattfand, wenn sie den letzten Rest Sauerkraut aus dem Fass mit dem doppelten Boden verspeist hatten. Weder die Bombenangriffe auf Kamieńsk, bei denen hundertfünfzig Menschen umkamen und neben einem guten Dutzend Häuser an der Geraden Straße auch das verbarrikadierte Herrenhaus des Fabrikanten in Schutt und Asche gelegt wurden, noch die Armut der Kriegsjahre warfen die Teetanten aus der Bahn ihrer geselligen Gepflogenheiten; weiterhin schenkten sie ihren Gästen die Gläser ein und stellten genau die Fragen, die man erwartete, nur dass sie anstelle von indischem oder chinesischem Tee jetzt Kräuteraufgüsse reichten und die Kekse, die sie nach wie vor in einer mal mit einer Blume, mal mit frischen Blättern dekorierten Gebäckschale anboten, jetzt mit Melasse gesüßt waren. Wenn bei den Teetanten die Kekse ausgehen, dann geht die Welt unter, sagten die Leute in Kamieńsk, und die Bewohner der Napoleonhütte spürten die Last der Verantwortung auf ihren Schultern. Ab und zu fuhren sie auf den Markt nach Radomsko oder Gorzkowice, doch irgendwann kam der Zeitpunkt, als alles, was noch irgendeinen Wert besaß, verkauft und der Vorrat bis auf das letzte Körnchen Grütze aufgebraucht war. Nur der kostbare Nachttopf steckte noch in dem Fass, und sein Glanz drang durch die vielen Schichten von Stoff, Werg und Holz, weshalb man auch in der tiefsten Nacht in der Speisekammer kein Licht anzuzünden brauchte. In der letzten Zeit hatte der Glanz noch zugenommen. Merkwürdig! Die Teetanten schüttelten die Köpfe und schlossen die Tür leise hinter sich ab. Im Allgemeinen gab es übrigens kaum noch einen Grund, in die Speisekammer zu gehen, denn den Teetanten und Grażynka sah wahrhaftig der Hunger in die Augen, und ein wenig fürchteten sie sich vor diesem Blick, der weißlich war wie mit Wasser verdünnte Milch. Die Zahl derer, die zu einer bescheidenen Teestunde in die Napoleonhütte eingeladen wurden, hatte sich rasch verringert, denn gleich zu Anfang des Krieges wurde in Radomsko ein Ghetto eingerichtet, in das die Kamieńsker Juden gebracht wurden, und es gab weder den Apotheker mehr noch Herrn und Frau Kac, noch Ludek Borowic und seine schöne Frau Hawa. Zum Teil waren sie nach Treblinka deportiert worden, andere waren unter den eintausendfünfhundert Menschen gewesen, die auf dem Radomsker Friedhof erschossen worden waren. Im dritten Kriegsjahr wurde Grażynka krank, was den Teetanten einen ganz schönen Schrecken einjagte: Das Mädchen hatte noch nie auch nur einen Schnupfen gehabt, obwohl sie schon im März in der Kamionka watete und den ganzen Winter ohne Mütze herumlief. Wenn mir heiß ist, fühle ich die Kälte gar nicht, pflegte sie zu sagen, aber jetzt verschwand die gesunde Röte von ihren Wangen, und ihre ganze Kraft schien zu verdampfen, ihre Hände und Füße waren dauernd kalt, nicht mal die mit siedendem Wasser gefüllten Wärmflaschen halfen, mit denen die Teetanten sie zur Nacht umgaben. Aus dem strahlenden Kind, das stets lachte, tanzte oder sang oder alles drei zusammen tat, war der bleiche Schatten eines Mädchens mit braunen Augen und haselnussfarbenen Locken geworden. Im Traum erschienen ihr die ermordeten Nachbarn aus Kamieńsk, sagte sie, die ganze Nacht redeten sie mit ihr in einer Sprache, die sie nicht verstand, und baten sie um etwas,
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