Wolkenfern (German Edition)
lebenswerte und nichtlebenswerte jünger zu wirken, zeitigte in ihrem Fall einen sehr anderen Erfolg als den beabsichtigten, denn sie wurde als verwendbar eingestuft. Als Róża schließlich als nicht mehr verwendbar aussortiert wurde, kam sie in die normale Baracke zurück und erkrankte zusammen mit Aniela an Typhus. Doch mit Typhus wurde man in die Krankenbaracke des Lagers geschafft, und dort kam man nur durch den Schornstein wieder hinaus – das jedenfalls meinte Tadeusz Kruk. Als er nach der Befreiung des Lagers nach Kamieńsk zurückkehrte, war er erleichtert, dass er die Teetanten dort nicht mehr antreffen würde. Tadeusz Kruk sagte sich immer wieder, er habe sich nichts vorzuwerfen, es war Krieg, er hatte keine andere Wahl, andere hatten noch ganz andere Sachen gemacht, und schließlich hatte er ja keinen umgebracht, ganz im Gegenteil, er hatte den Frauen und Kindern Zwiebel und Äpfel geschenkt. Er war froh, als er wie erwartet die Napoleonhütte leer vorfand, und er nahm das Leben wieder auf, das er kannte: Nachts träumte er, und tagsüber rasierte, schnitt, frisierte, wellte und dünnte er in seinem Geschäft an der Geraden Straße, das durch ein Wunder erhalten geblieben war, denn Wunder treffen in der Regel nicht die, die sie verdienen.
Und dennoch kehrten die Teetanten zurück, und Grażynka, die den ganzen Krieg im Waisenhaus in Tschenstochau verbracht hat, kam mit. Nach zwei, drei Wochen der Abschottung in der Napoleonhütte, wo nur Franciszka Pylek sie besucht hatte, wagten sich die Teetanten Arm in Arm wieder in die Stadt. Verschwunden waren ihre bescheidenen, aber eleganten Kleider und das lange Haar, jetzt trugen sie beide Hosen und Armeestiefel, und ihre irgendwie kleiner gewordenen Köpfe bedeckte unfrisiertes Stoppelhaar: Bei Róża war es weiß wie der Raureif auf den Auen an der Kamionka, bei Aniela grünlich wie faulendes Heu. Die Zähne waren ihnen ausgefallen, die Wangen hohl. Die Teetanten erinnerten jetzt an zwei seltsame Vögel nach der Mauser. Grażynka, die in diesen Jahren zu einer schönen Frau geworden war und älter aussah als ihre sechzehn Jahre, wich ihnen keinen Schritt von der Seite, als wollte sie sie mit ihrer Jugend und Gesundheit beschützen. Diese Kleine ist aber groß und hübsch geworden!, tuschelten die Leute in Kamieńsk. Zu dritt brachten sie den Garten in Ordnung und flickten das Dach, und mit der Energie derer, die den Hunger kennen, und einer Hingabe, als sollte der nächste Winter länger dauern als der letzte Krieg, machten sie sich im Herbst daran, Vorräte anzulegen. Ganz Kamieńsk sah die beiden großen Fässer für Saures, die sie wie leibhaftige Gewissensbisse aus Kleszczowa heranschafften, weil man ihnen ihre alten Fässer aus der Kammer gestohlen hatte. Doktor Jedwabny, der Kamieńsker Zahnarzt, der als einer der wenigen hiesigen Juden die Vernichtung überlebt hatte, machte Róża und Aniela ein Gebiss, und wenn sie Lust hatten, was nicht oft vorkam, konnten sie wieder lachen, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Als ihre Haare wieder etwas nachgewachsen waren, fuhren sie nach Radomsko und kamen mit kastanienbraun gefärbtem und steif dauergewelltem Haar zurück, da atmeten die Kamieńsker erleichtert auf, denn jetzt sahen sie sich wieder ähnlich, doppelt wie die siamesischen Schwestern, die sie von früher kannten. Als sie vom Bahnhof kommend durchs Städtchen gingen, grüßte sie jeder Passant, als wären sie von einer langen schönen Reise zurückgekehrt: Guten Tag, Fräulein Róża, guten Tag, Fräulein Aniela, schönes Wetter heute, nicht wahr, wie geht es Ihnen, Fräulein Róża, Fräulein Aniela, was gibt’s Neues, alles in Ordnung, Fräulein Róża, Fräulein Aniela? Die Ersten, die sie zum Tee einluden, waren Doktor Jedwabny und die schweigsame Postbeamtin Franciszka Pylek, die durch ein Wunder das Lager in Treblinka überlebt hatte. Aus den geöffneten Fenstern der Napoleonhütte wehte wieder der Duft von frischem Tee und Kuchen.
Die Welt von Kamieńsk geriet langsam wieder ins Gleichgewicht, und wohl niemand bemerkte, dass die Teetanten seit ihrer Rückkehr kein einziges Mal durch die Gerade Straße gegangen waren, die Hauptstraße von Kamieńsk, an der sich das Friseurgeschäft von Tadeusz Kruk befand und wo langsam die zerbombten Häuser wieder aufgebaut wurden. Sie schämen sich – zu diesem Schluss kam der Friseur, der im Laufe der Zeit an Selbstsicherheit beträchtlich gewonnen hatte. Sie schämen sich, weil ich sie nackt
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