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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Frauen war dieses Verzeihung eine Art Talisman, ein unverhofftes Geschenk, das ihnen niemand wegnehmen konnte. Als der rumänische Schafzüchter erfuhr, dass seine schwangere Frau und seine beiden Kinder tot waren, oder vielmehr, als er zuließ, dass dieses Wissen durch die Schutzschicht der Gedanken an Schafe-Wolle-Milch-Käse drang, da sagte er ein letztes Mal Verzeihung und schnitt sich mit dem frisch geschliffenen Rasiermesser, das er für die Gefangenen vorbereitet hatte, die Kehle durch. Da waren’s nur noch elf, doch Tadeusz Kruk aus Kamieńsk arbeitete für zwei, und bald wussten die SS -Männer seine Meisterschaft zu schätzen, denn diese übertraf in der Tat die Fähigkeiten aller anderen Friseure, deren Dienste sie bisher in Anspruch genommen hatten. Von nun an hatte Tadeusz Kruk nicht nur mit den Gefangenen zu tun, sondern auch mit den Henkern und ihren hellhaarigen Frauen, denen er eigenhändig die dunklen Haarwurzeln nachbleichte. Er bekam jetzt mehr zu essen und saubere Kleidung und sogar eine rotgepunktete Fliege. Das war ein lustiger Anblick – der Friseur mit Fliege und die kahlköpfigen nackten Frauen. Zwischen dem feuereifrigen Friseur und dem Kapo Martin Kalthöffer, einem Landwirt aus der Münchner Gegend, entspann sich eine Art Einvernehmen, wie es nur zwischen Menschen besteht, die einander zutiefst ähnlich sind. Des Friseurs geschickte Hand rasierte also den halben Kopf einer Frau, die so dichtes und langes Haar hatte, dass es rauschend wie ein abgestreiftes Kleid zu Boden fiel, und einen Augenblick lang ließ man sie so stehen, zwischen Schönheit und Hässlichkeit, zwischen Schrecklichkeit und Lächerlichkeit. Aber einen halben Kopf zu rasieren ist keine Kunst, jeder beliebige Friseurgehilfe aus Radomsko kann das, mit ein paar kurzen Bewegungen des Rasiermessers hingegen ein Hakenkreuz in das Dreieck zwischen den Frauenschenkeln zu rasieren, das ist ein echtes Meisterstück und ein sicherer Weg zu Martin Kalthöffers guter Laune: Das ist ja wirklich ein Prachtstück! Tadeusz Kruk nahm zu, seine eingefallenen Wangen entwickelten Polster, sein Teint wurde rötlich braun wie angebraten, er hatte noch nie so gut ausgesehen.
    So sahen ihn auch die Teetanten, die nach der Selektion und Durchsuchung als arbeitsfähig eingestuft worden waren und daher vorerst zumindest am Leben bleiben durften. Sobald sie hereinkamen, spürte der Friseur ihre Angst, eine große, fette Angst um einander und eine noch größere um einen abwesenden Menschen, so dass er mit Bedauern erriet, dass Grażynka nicht ins Lager gekommen war. Die Nacktheit der Teetanten offenbarte etwas, was nur wenige in Kamieńsk vermutet hatten: Die Schwestern oder Nichtschwestern aus der Napoleonhütte waren einander überhaupt nicht ähnlich! Unter dem Anschein von Ähnlichkeit und dem langen dunkelblonden Haar verbarg sich wie unter einem Vorhang der Unterschied zwischen dem einen Körper, der hell und weich war wie die Füllung von Cremeschnitten, und dem anderen, der mager und sehnig war. Die Hüften der einen waren ausladend und rund, die der anderen schmal wie die Taille, mit Hüftknochen, die vorsprangen wie Schaufelblätter. Plötzlich trat klar zutage, dass sich unter dem gemeinsamen Namen zwei eigene Vornamen verbargen: Róża hatte birnenförmige, schwere Brüste, bläulich geädert wie halb durchsichtig, bei Aniela krönten zwei dunkle Brustwarzen kleine Erhebungen, die Martin Kalthöffer belustigten: Die ist ja flach wie ein Brett! In dem Licht des Rasierraumes, das an einen Operationssaal erinnerte, waren auch die Haare der Teetanten nicht mehr gleich, und Anielas Zopf war obendrein falsch und mit Kämmen an der Kurzhaarfrisur befestigt. Nur den Bruchteil eines Augenblicks lang war Tadeusz Kruk ein Bekannter für sie, gleich darauf entdeckten sie in seinem Gesicht etwas, das sie im Innern ihres Herzens bereits vermutet hatten, wenn sie früher einen Bogen um sein Geschäft in Kamieńsk machten – das Vergnügen eines Menschen an der Angst anderer.
    Auf die Teetanten kam bald das zu, was sie mehr fürchteten als Kälte, Hunger und gar Tod, nämlich voneinander getrennt zu werden. Róża wurde in die Sonderbaracke geschickt. Die Gefangenen, denen die Haare anstelle der abrasierten schwarzen, roten, braunen oder goldblonden Haare weiß nachwuchsen, schmierten sich den Kopf mit einem Gemisch aus Spucke und Kohle ein, und das machte auch Róża. Diese Methode, die die Frauen anwandten, um bei der täglichen Selektion in

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