Wolkenfern (German Edition)
Mitleid, ein ähnliches Mitleid, wie sie es für den Schuster empfand, der die ganze Familie mitsamt seinen acht Kindern verloren hatte, und für den Postamtsleiter, der seines verkrüppelten Beines wegen einen Groll auf die ganze Welt hegte, für den farbenblinden Tischler, der meinte, er hätte es weit gebracht, wenn er Farben hätte unterscheiden können, für den melancholischen Lehrer, der sich nicht genügend geachtet fühlte, für den Dichter, der an Talentmangel und hartnäckigen Allergien litt, und den ewig betrunkenen Stationsvorsteher von Kamieńsk, der ohne Grund trank und sich darüber ärgerte, dass er trank. Ihr Mitleid für Männer war zutiefst empfundenes Mitgefühl für die Unzulänglichkeit der Existenz, und ohne die in ihr von jedem Makel geweckte unüberwindliche Neigung, den von diesem Makel Gezeichneten nackt auszuziehen und an ihre Brust zu drücken, hätte Grażynka Rozpuch aus Kamieńsk das Zeug zur Heiligen gehabt. Sie bemitleidete und seufzte, und jeder, der wusste oder spürte, dass ihm etwas fehlte, hatte die Chance, selbst zum Objekt ihrer Seufzer zu werden: Ach, was für ein armes Wurm, was für ein Tölpelchen, so ein Jammerbündel! Und mehr noch als der Schuster, der die ganze Familie mitsamt seinen acht Kindern verloren hatte, als der Postamtsleiter, der seines verkrüppelten Beines wegen einen Groll auf die ganze Welt hegte, als der farbenblinde Tischler, der meinte, er hätte es weit gebracht, wenn er Farben hätte unterscheiden können, als der melancholische Lehrer, der sich nicht genügend geachtet fühlte, als der Dichter, der an Talentmangel und hartnäckigen Allergien litt, und der ewig betrunkene Stationsvorsteher von Kamieńsk, der keinen Grund hatte sich zu betrinken – mehr noch als alle diese weckte dieser Friseur ihr Mitleid, denn sie meinte, kein Makel sei so schlimm wie die Gewissenlosigkeit. Grażynka wusste nichts Genaues über die Erfahrungen, die die Teetanten im Krieg gemacht hatten, denn diese vor ihr geheim zu halten war eine der guten mütterlichen Absichten, die sich in ihr Gegenteil verkehren und Folgen zeitigen, die so unerwartet sind wie jede Katastrophe.
Das ist ein wahres Wunder, dass wir uns wiedergefunden haben, seufzten die Teetanten, als sie wieder zu dritt mit Grażynka am Tisch in der Napoleonhütte saßen; das ist ein wahrhaftiges Wunder, flüsterten sie vor dem Einschlafen und zeigten beide auf den hellen Lichtstreifen, der unter der Zimmertür ihrer angenommenen Tochter hervordrang; das ist ein wahres Wunder, sagten sie immer wieder, wenn sie nachts aufwachten und, verschreckt von einem Traum voll tosendem Wasser, den sie beide gleichzeitig geträumt hatten, auf Zehenspitzen zu Grażynkas Tür schlichen, sie einen Spalt öffneten und sich vergewisserten, dass sie ruhig schlief, ihr Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Sie beruhigten einander: Nein, bei uns bestimmt nicht!, sagte Aniela zu Róża; ach, woher denn, überhaupt nicht?, sagte Róża zu Aniela, und doch kam es ihnen so vor, dass sie im warmen Dunst des Schlafzimmers etwas Fremdes spürten, eine Art unheilverkündenden Schatten, wie sie des Nachts durch die Straßen von Kamieńsk schweiften. Sie hatten das Gefühl, dass Grażynka ihnen entglitt, und sie fürchteten sich vor der Fremdheit, die ihre Tochter mit einer glasartigen Hülle umgab wie eine Schicht Eis, denn sie wussten nicht, woher sie gekommen war und was sie in diesen Jahren im Waisenhaus so von ihnen entfernt hatte. Sie fragten nicht einmal nach Napoleons Nachttopf, der verschwunden war – was kümmerte sie der Nachttopf! Bestimmt hatte sie ihn jemandem gegeben, wahrscheinlich hatten die Nonnen ihn sich unter den Nagel gerissen. Sie wollten ihr nicht hinterherspionieren, denn sie wussten, dass wenig der Liebe so schlecht tut wie ein Mangel an Vertrauen, und so warteten sie und warteten, dass sie vom Tanzschuppen nach Hause kam, von einer Freundin in Gorzkowice, vom Treffen mit diesem oder jenem in Kleszczowa, bis zu diesem Novembernachmittag im zweiten Herbst nach dem Krieg, als Grażynka ohne Zopf nach Hause kam, die Haare fast bis auf die Kopfhaut geschoren, und verkündete, ab morgen würde sie bei Tadeusz Kruk Friseuse lernen. Dieses arme Wurm, dieses Jammerbündelchen, er kommt alleine nicht zurecht! Er tat ihr so schrecklich leid, dieser Friseur!
Die Teetanten konnten in dieser Nacht nicht schlafen, und wenn jemand durch den Spalt zwischen den narzissengelben Vorhängen in die Napoleonhütte geschaut hätte,
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