Wolkenfern (German Edition)
gesehen habe. Ihm fehlte es nicht an Arbeit. Die Frauen wollten jetzt keine langen Haare mehr, sie kamen zu dritt, zu viert, zu sechst zu ihm, ließen sich die Zöpfe abschneiden, nahmen ihre Pappköfferchen und fuhren in die Stadt, nicht mehr nach Łódź oder Piotrków, sondern weiter weg, in die Wiedergewonnenen Gebiete. Die Teetanten sah der Friseur nie, doch Grażynka starrte er durchs Fenster an, und er war nicht der Einzige, denn wenn sie durch Kamieńsk ging, schauten die erwachsenen Männer von ihrer Arbeit auf, und die Großväter rieben sich die Augen, die Jungen schnalzten, hüstelten und pfiffen unbeholfen, da sie erst noch dabei waren, die männlichen Methoden, wie man Aufmerksamkeit auf sich zog, zu erlernen. So eine Schöne! Was für ein Hintern! Gut sieht sie aus! Guck mal, die Titten! Jeder brachte seine Bewunderung auf seine Art zum Ausdruck, und hätten sie versucht, ein wenig mehr Worte darauf zu verschwenden, wären die Aussagen der Männer von Kamieńsk so verschieden voneinander gewesen, als bezögen sie sich auf ganz unterschiedliche Personen. Alle, die in Grażynka eine Art Heilsbringerin sahen, hatten eines miteinander gemein: Jeder von ihnen trug einen mal mehr, mal weniger selbstverschuldeten körperlichen oder seelischen Makel: einen Buckel, die Unfähigkeit, das Geld in der Tasche zu halten, ein krankhaftes Unrechtsgefühl, unterschiedlich lange Beine, völligen Orientierungsverlust, Daltonismus, Alkoholismus, Melancholie oder Sonnenallergie, Lese- und Rechtschreibschwäche, der man seinerzeit dadurch beizukommen versuchte, dass man den Delinquenten Jahr um Jahr dieselbe Klasse wiederholen ließ, bis er für die Schulbank zu groß wurde, alle Träume, es auch nur bis Radomsko zu schaffen, aufgab und in der Sägemühle arbeiten ging. Grażynkas Schönheit wuchs an den Unzulänglichkeiten der Männer von Kamieńsk, diese witterten mit einem halb tierischen Instinkt ihre Großzügigkeit, die darin bestand, dass sie nicht von dem gab, wovon sie in Hülle und Fülle hatte, sondern genau das, wonach es den Bittenden verlangte, auch wenn er selbst nichts davon wusste. Tadeusz Kruk saugte sich mit den Blicken an Grażynka fest und trank von ihrem Anblick, bis ihm der Adamsapfel in Bewegung geriet: rote Baskenmütze, zusammengestoppelter Nachkriegsmantel, dicke Strumpfhosen, abgelaufene Schuhe – und dabei fühlte er eine nie gekannte Süße, die er bis auf den letzten Tropfen auskosten wollte, weshalb er ständig ein Gesicht machte, als hielte er einen Strohhalm zwischen den Lippen und sauge den letzten Rest Orangeade aus einem Glas. Ebenso wie der Schuster, der die ganze Familie samt seinen acht Kindern verloren hatte, wie der hinkende Postamtsleiter, der wegen seines verkrüppelten Beins einen Groll auf die ganze Welt hegte; der farbenblinde Tischler, der meinte, er hätte es weit gebracht, wenn er Farben hätte unterscheiden können, der melancholische Lehrer, der sich nicht genügend geachtet fühlte, der Dichter, der an Talentmangel und hartnäckigen Allergien litt, der ewig betrunkene Stationsvorsteher von Kamieńsk, der trank und sich ärgerte, dass er ohne jeden Grund trank – ebenso wie diese alle träumte auch der Friseur, dass eines Tages die schöne Tochter der Teetanten vor ihm stehen und seine Begierde vollends stillen würde, wodurch sich der von ihm empfundene Mangel schließen würde wie eine Wunde.
Als Grażynka eines Tages einfach so den Friseurladen an der Geraden Straße betrat, verlor Tadeusz Kruk beinahe den Kopf. Sie setzte sich auf den Stuhl, noch bevor er sie dazu auffordern konnte, drehte sich ein paar Mal im Kreis, fasste ihren Zopf, hob ihn hoch und sagte: Schneiden Sie mir die Haare kurz, Herr Tadziu. Er schnitt ganz langsam und erbebte bei dem Gedanken, dass die abgeschnittenen Haare ihm gehören würden, während sie eine Frage nach der anderen stellte: Wozu ist das da? Wofür sind diese Gummiringe? Ist es schwer, eine Dauerwelle zu legen? Und was riecht hier so schön nach Rosen, Herr Tadziu? – bis Tadeusz Kruk, von einem Geistesblitz erleuchtet, ihr vorschlug, sie könne doch bei ihm in die Lehre gehen und ihm helfen. Wenn es ihr nicht gefalle, Pech, wenn ja, könnte sie das Fach von Grund auf unter seinen Augen lernen, deren beide sich wie Blutegel an ihrem Gesicht, ihrem Hals, ihren Brüsten festsaugten. Grażynka spürte keine große Neigung zum Friseurberuf, er zog sie so wenig an wie jeder andere, doch sie spürte gegenüber dem Friseur ein großes
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