Wolkengaenger
Mauer gebaut?«, fragte ich.
»Taunhauses«, sagte der Eierkopf.
»Was bitte sehr ist das?«
»Na, so was wie Cottages, nur größer.«
Da fiel bei mir der Groschen. Wanjas ehemalige Heimat wurde abgerissen, um durch Stadthäuser ersetzt zu werden – scheinbar
verwendete man dafür nun selbst in Moskau die englische Bezeichnung »town houses«. Wenn man davon ausging, dass ein russisches
Cottage etwa die Größe des Disneyland-Schlosses hatte, mussten die Stadthäuser Buckingham Palace gleichkommen.
»Und wer soll darin wohnen?«, fragte Wika, die entsetzt war, dass dafür der Wald abgeholzt wurde.
»Das gemeine Volk, natürlich«, witzelte der Kleinere.
Er wies uns an, den Hügel hinunterzufahren und auf einem anderen Weg wieder hinauf, der uns zum Eingang der Baustelle führen
würde. Das taten wir dann auch und kamen zu einem Wachposten mit zwei uniformierten Sicherheitsmännern. Ich zeigte ihnen die
Adresse, und der eine sagte: »Noch nie gehört. Fragen Sie die Mütterchen unten im Ort.«
Wika war völlig verwirrt. Wir fuhren ein weiteres Mal den Hügel hinunter, wo uns die Postbotin begegnete. Die musste es ja
nun wissen, glaubten wir, und der Fahrer, dem die Suche |312| inzwischen Spaß zu machen schien, winkte sie heran. Doch auch sie konnte uns nicht weiterhelfen.
»Hier kommt keiner mehr vorbei, den wir fragen könnten«, sagte ich deprimiert zu Wika. »Wir sollten heute Abend noch mal herkommen.
Vielleicht sind alle bei der Arbeit auf den Feldern.«
»Es wird schon noch jemand auftauchen«, sagte sie. Sie musste am Abend zu einem Klavierkonzert ihres Sohnes, daher stieß mein
Vorschlag auf wenig Begeisterung.
Während ich verdrießlich vor mich hin starrte, sprang Wika plötzlich aus dem Auto und lief auf eine Frau zu, die sie hinter
einem halboffenen Tor entdeckt hatte.
»Entschuldigung, können Sie uns weiterhelfen?«, fragte Wika. »Wir suchen nach der Familie eines Jungen namens Wanja. Er hat
früher einmal hier gelebt. Seine Mutter hieß Natascha.«
»Die Familie kenne ich«, sagte die Frau. »Kommen Sie rein.«
Wika gab mir ein Zeichen, und ich stieg aus. Die Frau trug ein himmelblaues Polohemd und stellte sich uns als Nadja, die Dorfälteste,
vor. Ihre Familie lebte seit dem 17. Jahrhundert in dem Ort. Sie war vor kurzem in den Ruhestand getreten, nachdem sie beim
KGB tätig gewesen war. Entzückt stellte Wika fest, dass an den Wänden ihres gepflegten Holzhauses Heiligenbilder und orthodoxe
Kreuze hingen.
»Am besten kannte ich die Großmutter des Jungen, Tatjana. Sie war Malerin und Tapeziererin«, sagte Nadja. Wie alle, die in
der Siedlung auf dem Hügel gelebt hatten – sie deutete in die Richtung, wo die Bulldozer zugange waren –, hatte Tatjana in
Rubljowo, dem Nachbarort, in einer Ferienhausanlage gearbeitet.
»Dort haben es sich die Bonzen der Kommunistischen Partei gutgehen lassen«, meldete sich nun Nadjas Mann zu Wort.
Nadja schilderte uns Wanjas Großmutter als fleißige Frau, großartige Köchin und äußerst reinliche Hausfrau. Sie und ihr Mann
Iwan waren glücklich verheiratet und verbrachten viel Zeit in ihrem Gemüsegarten.
|313| Tatjana war bereits beinahe vierzig, als sie – zu ihrer eigenen Überraschung – ihr erstes und einziges Kind zur Welt brachte:
Natascha. Mehr schien Nadja über Wanjas Mutter nicht erzählen zu wollen.
»Wann begannen die Probleme?«, hakte Wika nach.
»Natascha war ein Einzelkind mit einer älteren Mutter. Sie war ein verzogenes Gör«, sagte Nadja. »Als sie mit Wanja schwanger
war, starben erst ihr Vater und kurz darauf auch Tatjana. Ohne die Unterstützung ihrer Eltern war Natascha mit den drei Kindern
völlig überfordert.« Nadja erzählte weiter, dass Nataschas älterer Sohn, Wadim – Wanjas Halbbruder – mit ihrem Sohn in eine
Klasse gegangen war.
Die Bewohner der Siedlung oben auf dem Hügel waren vor nicht allzu langer Zeit umgesiedelt worden, um Platz für die neuen
Townhouses zu machen. In alter KGB-Manier rief Nadja eine Freundin in der Verwaltung an, die uns eventuell den Aufenthaltsort
von Wanjas Familie nennen konnte, doch die Frau war nicht an ihrem Platz. Ihre Sekretärin sagte, dass sie nach dem Mittagessen
– in zwei Stunden – zurückerwartet wurde und wir es dann noch einmal versuchen sollten. Anschließend suchte Nadja nach der
Handynummer einer Nachbarin, die Wanjas Familie besser gekannt hatte. Doch auch sie ging nicht an ihr Telefon. Dennoch wollte
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