Wolkengaenger
leiser Stimme,
war schlicht gekleidet und damit das genaue Gegenteil der meisten jungen Russinnen: keine High Heels, kein Minirock, kein
Make-up. Sie wirkte zerbrechlich und schutzbedürftig – dennoch bestand sie darauf, den Weg zu Wikas Wohnung zu Fuß zurückzulegen.
Wika begrüßte uns aufgeregt. Sarah und sie konnten es kaum erwarten, Olga von ihrem Bruder zu erzählen, doch zuerst hörten
wir uns ihre Geschichte an. Wie sie so aufrecht und graziös an dem Küchentisch saß, erinnerte sie an eine Balletttänzerin.
Sie griff in ihre Tasche und holte einen zerlesenen Zeitungsausschnitt hervor. Ich erkannte den Artikel: Die russische Tageszeitung
Iswestija
hatte ihn infolge meiner Geschichte über Wanja im
Daily Telegraph
vor zehn Jahren veröffentlicht.
»Eines Tages kam der Leiter des Waisenhauses zu mir und sagte: ›Hier steht etwas über deinen Bruder.‹ Daher dachte ich immer,
mein Bruder sei in England«, erzählte uns Olga. Gerade letzten Monat hatte sie sich mit Farid eine beliebte Fernsehshow angesehen,
in der sich die Zuschauer mit der Bitte an die Redaktion wenden können, längst verloren geglaubte Verwandte ausfindig zu machen.
»Ich hatte mir überlegt, Wanja vielleicht auf diesem Weg finden zu können. Doch ich wusste weder, wann er geboren ist noch
wie er jetzt mit Nachnamen heißt.«
Ruhig und gefasst erzählte sie uns die Geschichte ihrer Kindheit und wie es dazu kam, dass ihre Familie zerbrach. Selbst schmerzliche
Details verschwieg sie nicht, klammerte sich jedoch an die wenigen glücklichen Erinnerungen. An ihrem ganzen Verhalten wies
nur eine Kleinigkeit darauf hin, dass sie in einer staatlichen Einrichtung groß geworden war: |317| Da sie als Kind nie die Wahl zwischen verschiedenen Dingen gehabt hatte, fielen ihr Entscheidungen bis heute schwer, und so
wusste sie nicht, für welchen Tee und Kuchen sie sich entscheiden sollte.
Olga konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als sie mit ihrer Mutter Natascha und ihrem Vater Anatoli in der Wohnung ihres
Vaters gelebt hatte. Doch die schönsten Erinnerungen hatte sie an die Besuche bei ihren Großeltern. Sie wusste stets, dass
ihre Mutter sie liebte, dennoch brachte Natascha sie immer häufiger zu ihren Eltern. Olga liebte es, mit ihrem Großvater im
Gemüsegarten zu werkeln, und hatte noch genau den Tag vor Augen, als er zwei Apfelbäume pflanzte: einen für sie und einen
für ihren drei Jahre älteren Halbbruder Wadim, der ständig bei den Großeltern lebte. Doch alles veränderte sich, als sie vier
Jahre alt war und zunächst ihr Großvater und kurz darauf auch ihre Großmutter starben. Wadim zog daraufhin zu seinem Vater,
doch er konnte den Tod seiner Großmutter nie wirklich verwinden und geriet zunehmend mit dem Gesetz in Konflikt. Olga wurde
in ein Kinderheim gesteckt.
Während sie sich in staatlicher Obhut befand, wurde ihre Mutter mit Wanja schwanger und beschloss, noch einmal von vorn anzufangen.
Sie zog zusammen mit Olgas und Wanjas Vater in die ehemalige Wohnung der Großeltern. Beide hörten auf zu trinken und konnten
eine Nachbarin überzeugen, zu bestätigen, dass sie nun gute Eltern waren und Olga wieder zu sich nehmen könnten. Zur Feier
ihrer Rückkehr in die Familie kauften die Eltern einen Hund, einen Neufundländer, den sie Irma nannten und den Olga schon
bald abgöttisch liebte.
Von Beruf war Olgas Vater Koch, und bis heute hat sie ein ganz bestimmtes leckeres Gericht aus Kartoffeln und Pilzen nicht
vergessen, das er ihnen manchmal kochte.
Ihre Mutter hatte sie als sehr strenge Frau in Erinnerung. Die Mahlzeiten kamen stets zu einer festen Uhrzeit auf den Tisch,
und während Olgas Freunde am Nachmittag draußen spielen durften, musste sie drinnen bleiben und Mittagschlaf |318| halten. In der Nachbarschaft war Natascha beliebt – bis sie wieder anfing zu trinken.
Die Eltern begannen erneut, zu streiten. Als Olga eines Tages nach Hause kam, merkte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.
Es war ungewöhnlich still in der Wohnung, und der Platz im Wohnzimmer, an dem Irmas Korb gestanden hatte, war leer. Olga rannte
in die Küche. Der Hundenapf war ebenfalls weg.
»Wo ist Irma, Papa?«
»Wir haben kein Geld mehr, um sie zu füttern. Sie ist an einem guten Ort. Vergiss sie.« Olga war außer sich vor Kummer. Doch
es kam noch schlimmer. Olga erinnerte sich an einen schlimmen Streit, den die Eltern hatten, nachdem ihre Mutter getrunken
hatte. Ihr Vater stand
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