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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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verwirrender Fragen aufwarf. Als er uns erzählte, dass ihm der Streit mit Sonja noch immer auf der Seele
     lag, sagten wir ihm, dass auch Sonja die Geschehnisse bis heute nicht verwunden habe und sich von den Behörden verraten fühle,
     und dass er, trotz allem, stets einen Platz in ihrem Herzen habe.
    Am zweiten Tag unseres Wiedersehens begann John, genauere Fragen über sein Leben in Russland zu stellen, da er nicht verstehen
     konnte, wie dort mit ihm umgegangen worden war. Warum, fragte er sich, hatte Adela – die ein guter Mensch zu sein schien –
     zugelassen, dass er in eine Irrenanstalt verlegt wurde?
    Dann stellte er Fragen über seine Eltern. »Es gibt Hinweise in den Unterlagen, dass sie getrunken haben«, sagte er vorsichtig.
     Er wusste außerdem, dass er einen älteren Halbbruder, Wadim, und eine Schwester, Olga, geboren 1985, hatte, die zum Zeitpunkt
     seiner Abreise in einem Waisenhaus lebte.
    Am schwersten fiel uns die Antwort auf eine Frage, die ihm selbst nur zögerlich über die Lippen ging: »Als Wika erfuhr, unter
     welchen Bedingungen ich in der Anstalt leben musste, ist sie da zur Polizei gegangen?« Seine Höflichkeit verbot es ihm, uns
     geradeheraus zu fragen: Warum habt ihr mich nicht sofort dort herausgeholt? Warum habt ihr mich neun Monate lang leiden lassen?
    In diesem Moment sprach der Amerikaner aus ihm, der er geworden war und für den eine Anzeige wegen Kindesmisshandlung folgerichtig
     das Einschreiten von Polizei und Sozialämtern nach sich zog. Ihm zu erklären, dass die Art, wie |307| mit ihm umgegangen worden war, in Russland nicht gesetzwidrig, sondern das ganz normale Schicksal von behinderten Kindern
     oder sogenannten ›Schwachsinnigen‹ ist, war nicht einfach. Viele seiner Fragen mussten an diesen beiden Tagen unbeantwortet
     bleiben, und der Wunsch nach befriedigenden Antworten war die Geburtsstunde dieses Buches.
    Bevor wir Abschied nahmen, verspürte Sarah das Bedürfnis, jene beiden Menschen, die vor zehn Jahren ein so enges Verhältnis
     gehabt hatten, wieder zusammenzubringen. Sie griff zu ihrem Handy und wählte eine Nummer in Moskau. Als sich am anderen Ende
     eine fröhliche Stimme meldete, sagte Sarah: »Hier möchte dich jemand sprechen.«
    »Wika, hier ist John.«
    Zu mehr kam er nicht. Ein nicht enden wollender russischer Wortschwall prasselte auf ihn nieder. In seinen Augen spiegelte
     sich Panik. Er nahm sich zusammen und sagte mehrere Male energisch »Wika«, bis die Stimme am anderen Ende endlich verstummte.
     Dann sagte er etwas auf Englisch, wovon er sich sicher war, dass sie es verstand: »Ich hab dich sehr lieb, Wika.«

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DETEKTEI PHILPS
    Mai 2007
    Ein paar Wochen nach dem Wiedersehen in Bethlehem stand ich in Moskau auf einem engen Metro-Bahnsteig und wartete. Zu beiden
     Seiten rasten im Neunzig-Sekunden-Takt Züge mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof, und inmitten dieses Höllenlärms wartete
     ich auf eine junge Frau, deren Unpünktlichkeit mich schon vor zehn Jahren zur Verzweiflung gebracht hatte. Damals hatte mich
     Wika zu einem kleinen Jungen geführt, den man hinter hohen Mauern versteckt hielt. Heute benötigte ich abermals ihre Dienste.
    Ich fragte mich, ob ich sie wiedererkennen würde. Damals war sie eine arme Studentin gewesen, die mich verlegen darum gebeten
     hatte, ihr Pelmeni zu kaufen. Inzwischen war sie Mitte dreißig, verheiratet und dreifache Mutter. Während die Züge weiter
     meine Ohren malträtierten, zog ich einen Zettel aus meiner Jackentasche – die Kopie eines Eintrags vom 27. November 1991:
     die Aufnahme eines kleinen Jungen, Wanja Pastuchow, in ein Moskauer Waisenhaus. Unter seinem Namen stand eine Adresse. Dieses
     Blatt Papier war mein einziger Anhaltspunkt, meine Schatzkarte, mit der ich in einer Zwölf-Millionen-Stadt die
eine
Familie ausfindig machen wollte. Zum Zeitpunkt des Eintrags war Moskau die Hauptstadt einer Supermacht gewesen, die innerhalb
     weniger Monate aufhörte zu existieren. Seither glich die Stadt einer Großbaustelle. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden anhand
     dieser alten Adresse ausfindig zu machen, war äußerst gering.
    Als Wika aus dem Zug sprang, wirkte sie kaum einen Tag älter als bei unserer ersten Begegnung vor elf Jahren. Sie war |309| groß und schlank, und man sah ihr ihre drei Schwangerschaften nicht an. Die Aufgabe, die vor uns lag, schien ihr eine willkommene
     Gelegenheit, ihrer Rolle als Vollzeitmutter für ein paar Stunden zu entfliehen, und

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