Wolkengaenger
empfing uns herzlich, und bereits nach wenigen Minuten hatten wir das Gefühl, sie schon unser ganzes
Leben lang zu kennen. Es war nicht zu übersehen, wie innig das Verhältnis zwischen ihr und John war. Auf unsere Frage, wie
sie sich bei ihrer ersten Begegnung am Moskauer Flughafen gefühlt hatten, antworteten beide wie aus einem Mund: »Ich hatte
Angst« – und mussten beide lachen.
Innerhalb von nur drei Monaten nach seiner Ankunft in den USA hatte John fließend Englisch gelernt – und sein Russisch beinahe
ebenso schnell vergessen. Es berührte mich zu hören, dass er seine besondere Art zu sprechen vom Russischen auf das Englische
übertragen hatte und auch seine liebenswerte Angewohnheit nicht aufgegeben hatte, so lange mitten im Satz innezuhalten, bis
ihm das richtige Wort einfiel. Als wir über die entsetzlichen Bedingungen sprachen, unter denen er in Filimonki leben musste,
suchte er lange nach dem passenden Wort, um die blanke Matratze zu beschreiben, auf der er vierundzwanzig Stunden am Tag hatte
verbringen müssen. »Sie war aus … Plastikleder.« Nichts hätte die Beschaffenheit des billigen Kunststoffs, der um ein rechteckiges
Stück Schaumgummi genäht war, treffender beschreiben können.
An diesem Nachmittag erfuhren wir zum ersten Mal etwas über Paula und wie sich ihr Leben von Grund auf und für alle Zeit verändert
hatte, nachdem sie im September 1998 den Artikel von dem Paar gelesen hatte, das gerade mit seiner Adoptivtochter aus Russland
zurückgekehrt war.
Paula erzählte uns auch von den beiden Wochen, die sie im Anschluss an ihre erste Begegnung zusammen mit Wanja in Moskau verbracht
hatte. Wanja war damals äußerst instabil gewesen und weinte viel. Jemand anderen hätte das möglicherweise überfordert, doch
Paula war aufgrund ihrer Erfahrungen als Schulpsychologin seinen Tränen gewachsen. Als sie |305| dann erst einmal in Pennsylvania waren, konnte sie Wanja schließlich davon überzeugen, dass ihm keine weitere Zurückweisung
drohte. Eines Tages kam er vom Spielen aus dem Garten ins Haus zurück und fühlte sich sicher genug, um zu sagen: »Du bist
meine geliebte Mama.«
Sarah und ich klärten Paula über die Hintergründe von Wanjas damaligem Verhalten auf, und ihr wurde klar, wie viel Angst er
gehabt haben musste, dass auch sie ihn zurückweisen würde. Nach all seinen Bemühungen, eine Beziehung zu zwei neuen »Müttern«
aufzubauen, die jedes Mal mit einer Katastrophe geendet hatten, war sein anfängliches Verhalten Paula gegenüber alles andere
als verwunderlich. Wie alle verlassenen Kinder war er es gewohnt, die Verantwortung für sein Schicksal selbst zu übernehmen,
und als sich erst Linda und dann Sonja von ihm abwandten, gab er sich allein die Schuld daran.
Zum damaligen Zeitpunkt hatte Paula nur eine vage Vorstellung von all den traumatischen Erlebnissen, die Wanja hinter sich
hatte. Hinzu kam, dass niemand Wanja auf die bevorstehende Adoption vorbereitet hatte. In den neun Monaten bis zum Abschluss
des Adoptionsverfahrens sprach man mit ihm kein einziges Mal über seinen Umzug nach Amerika – was überraschender klingen mag,
als es ist, denn Wanjas offizieller Vormund, Maria, hatte bis zu Paulas Eintreffen in Moskau keinerlei Kontakt zu ihr.
Nur einer Person war es damals nicht möglich, an der Freude über Wanjas Adoption teilzuhaben: Wika verbrachte den Sommer mit
ihrem Baby in einem Blockhaus auf dem Land, ohne Telefon. Sie hatte somit keine Gelegenheit, sich von Wanja zu verabschieden,
ihn an sich zu drücken, im Arm zu halten und ihm Glück für sein neues Leben zu wünschen. Ebenso wenig wie ihre Freunde, die
ihn so oft besucht hatten. Für Wika fühlte sich Wanjas Abreise an, als sei er gestorben.
Bis heute bedauert Maria, dass Wanjas Retterinnen Wika und Paula sich nie hatten kennenlernen können. Von Wika hätte Paula
so viel über ihren Sohn erfahren und ihn somit besser verstehen können. »In gewissem Maße wurde jeder von |306| uns an irgendeinem Punkt aus dem Adoptionsverfahren ausgeschlossen. Das alles zeigt, wie wenig die russischen Adoptionsgesetze
auf das Kind ausgerichtet sind. Wie Waren werden die Kinder von den Sozialämtern und Gerichten hin- und hergeschoben – menschliche
Wärme oder die Gefühle der Kinder spielen dabei keine Rolle.«
Zwei Tage lang schwelgten wir mit John und Paula in Erinnerungen, was schön klingen mag, für John jedoch sehr schmerzlich
war und eine Menge
Weitere Kostenlose Bücher