Wolkengaenger
Nadja uns irgendwie weiterhelfen und führte uns den Hügel zu der Mauer hinauf. »Wenn Sie auf einen Baum klettern, können Sie
das Haus sehen, in dem die Familie gewohnt hat.«
Wir stiegen auf einen Geröllhügel, von wo aus wir die Spitze eines alten sowjetischen Wohnblocks erkennen konnten. Warum gerade
dieses Gebäude als einziges noch stand, war mir unerklärlich. Trotz des einsetzenden Regens machten wir Fotos. Kurz darauf
rief die Nachbarin, Oksana, auf Nadjas Handy zurück. Wika sprach mit ihr und machte sich Notizen.
Oksana konnte sich an Wanja erinnern, vor allem an seine Augen, die, wie sie schwärmte, zu sagen schienen: Ich will alles,
die ganze Welt. Sie hatte angenommen, dass er bereits vor langer Zeit in einer Anstalt gestorben sei.
|314| Von ihr erfuhren wir, warum Wanjas ehemaliges Zuhause noch immer stand, während alle anderen Gebäude drum herum bereits abgerissen
worden waren. Der Grund war Wadim, Wanjas älterer Halbbruder, der dort noch gemeldet war, obwohl er eine Gefängnisstrafe abgesessen
hatte und nun verschwunden war. Nach altem kommunistischen Gesetz war der Abriss von Gebäuden nur dann möglich, wenn alle
darin gemeldeten Bewohner eine neue Unterkunft erhalten hatten. Folglich stand es nun so lange leer, bis Wadim auftauchte
und seinen »Wohnraum« aufgab.
Oksana war zuversichtlich, uns bei der Suche nach Wanjas älterer Schwester, Olga, weiterhelfen zu können, und gab Wika die
Telefonnummer einer anderen Nachbarin, Ajda, die eventuell eine Kontaktnummer für uns hatte.
Mittlerweile schüttete es regelrecht. Vollkommen durchnässt liefen Wika und ich zum Wagen und fuhren zurück zur Metro-Station.
Wir entschieden uns für ein spätes Mittagessen in einem scheußlichen, scheunenartigen Restaurant in der obersten Etage eines
neuen Einkaufszentrums. Nach dem Dessert reichte ich Wika mein Telefon. Ich wollte niemanden mit meinem ausländischen Akzent
verschrecken, und Wika hatte sich als einfühlsame Anruferin bewährt. Alles verlief reibungslos: Oksana hatte Ajda bereits
angerufen. Von ihr erhielt Wika die Nummer von Olgas Mann, Farid. Und einen Moment später sprach Wika mit Wanjas Schwester.
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag an der Metro-Station bei Wika in der Nähe. Ich versprach, einen Kuchen und eine
Zeitung als Erkennungszeichen mitzubringen.
»Und wie erkennen wir Sie?«, fragte Wika.
»Sie können mich nicht verfehlen. Ich bin hochschwanger.«
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|315| 30.
DIE GESCHICHTE EINER SCHWESTER
Mai bis Oktober 2007
Am nächsten Tag machte ich mich frühmorgens auf den Weg zu einer Konditorei, die ich am Abend zuvor entdeckt hatte. Dem bevorstehenden
Treffen mit Johns Schwester sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Statistiken – selbst die offiziellen – über das
Schicksal von Kindern, die in staatlichen Einrichtungen aufwuchsen und mit achtzehn Jahren ins Leben entlassen wurden, gaben
wenig Anlass zur Hoffnung. Nur allzu leicht gingen diese jungen Erwachsenen Drogendealern, Menschenhändlern und Zuhältern
ins Netz und endeten nicht selten als Prostituierte, Alkoholiker und Drogenabhängige auf der Straße. Doch wir hatten John
versprochen, mehr über seine Familie herauszufinden und konnten ihn nun nicht im Stich lassen.
Während ich mir einen Weg durch die Rudel streunender Hunde bahnte, die um mein Hotel herum kampierten, zählte ich 400 Rubel
in meiner Hosentasche, was selbst für die teuerste Torte Moskaus reichen musste. In der Konditorei tummelten sich bereits
jede Menge gutgekleideter Moskauer, und während ich wartete und die Auslagen betrachtete, musste ich feststellen, wie fernab
jeder Realität ich mich hier in Moskau bewegte: Der günstigste Kuchen kostete 700 Rubel, etwa 15 Pfund. Ich schlich mich vorbei
an den russischen Damen wieder aus dem Geschäft hinaus, machte mich auf die Suche nach einem Geldautomaten und erstand schließlich
für 800 Rubel eine Obsttorte, die mit exotischen Früchten dekoriert war: Physalis, Kumquats und einer Scheibe Grapefruit.
Sarah und ich kamen viel zu früh am vereinbarten Treffpunkt |316| an. Da die Metro-Station nur über einen Ausgang verfügte, hatten wir uns mit Olga oben verabredet, und als wir ans Tageslicht
traten, stand dort aufrecht, neben einem Pfeiler, eine zarte, blasse, junge Frau mit langen, glatten, hellbraunen Haaren.
Sie war unübersehbar schwanger und hatte ebenfalls einen Kuchen bei sich. Wir begrüßten sie. Sie sprach mit
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