Wolkengaenger
über ihr, mit Wanja auf dem Arm und fragte: »Bei wem willst du wohnen, Mama oder Papa?« Olga dachte
an das leckere Essen, das er kochen konnte, und antwortete: »Bei dir, Papa.«
Kurz nach dem Streit verließ zunächst ihre Mutter, dann auch ihr Vater die Wohnung und verschloss die Haustür hinter sich.
Es wurde dunkel, und Olga war noch immer ganz allein mit Wanja. Irgendwann kletterte sie auf ein Fensterbrett und rief dem
Nachbarn zu, dass sie Hunger habe. Einer der Nachbarn stieg in die Wohnung ein und rettete sie.
Am nächsten Tag kam die Polizei, um die beiden abzuholen – das war das letzte Mal, dass sie ihren Bruder gesehen hatte. Sie
war damals fünf, er ein Jahr alt, und aufgrund des Altersunterschiedes brachte man sie in verschiedene Einrichtungen. Sie
kam zurück in das Kinderheim und er in ein Babyhaus.
Einmal wurde sie von einem Paar im Kinderheim abgeholt, das sie mit in ihre Datscha nahm. Sie versprachen, sie wieder zu besuchen
– heute weiß sie, dass die beiden mit dem Gedanken spielten, sie zu adoptieren –, doch sie tauchten nie wieder auf. »Ich schätze,
sie sind immer noch unterwegs«, sagte Olga lachend.
Mit sechs Jahren wurde Olga einer medizinisch-psychologischen |319| Kommission vorgeführt, die darüber entscheiden sollte, ob sie eine normale Schule besuche dürfe. Einer der Tests bestand darin,
einen Baum zu erkennen. Olga wollte sich nach allen Seiten absichern und antwortete daher: »Das ist ein eichiger Ahornbaum.«
Sie fiel durch den Test, erhielt die Diagnose »Kretin« und wurde in ein Waisenhaus für geistig Zurückgebliebene gebracht,
wo ihr lediglich ein Minimum an Bildung zukam.
Dann gelang ihr etwas äußerst Bemerkenswertes: Sie überzeugte die Lehrer davon, wie intelligent sie war und übernahm in der
Klasse die Rolle einer Assistentin. Ihrem festen Willen und ihrer Entschlossenheit war es zu verdanken, dass sie schließlich
– ohne irgendwelche Hilfe von außen – in das Waisenhaus Nr. 15 verlegt wurde, wo sie Unterricht erhielt.
Nachdem sie dort ein Jahr gewesen war, geschah erneut etwas Außergewöhnliches: Das Waisenhaus wurde in eine Zirkusschule umgewandelt.
Schirmherr dieser Schule war kein Geringerer als der Superstar des Moskauer Zirkus auf dem Zwetnoj-Boulevard, der Clown und
Schauspieler Juri Nikulin. Alle Kinder mussten sich ständigen Tests unterziehen, und Olga wurde dazu erkoren, Akrobatin zu
werden. Sie trainierte, im Handstand auf verschiedenen Gegenständen zu stehen. Während einer Vorstellung, sie balancierte
gerade auf zwei Stapeln Backsteinen, die sie nach und nach abbaute, verlor sie das Gleichgewicht und fiel von der schmalen
Bühne. Sie kam ins Krankenhaus, wo man sie am Rücken operieren musste. Ihre Karriere als Akrobatin war damit beendet – mit
dreizehn Jahren.
Wäre der Unfall nicht passiert, hätte sie als Zirkusartistin die Welt bereist, doch stattdessen brachte man ihr bei, wie man
Wein und Spirituosen verkauft. Olga rümpft noch heute die Nase bei dem Gedanken. Sowohl sie als auch ihr Mann tranken niemals
Alkohol.
Und was ist aus ihrer Mutter geworden? 1997, als Olga zwölf war – Wanja erholte sich zu dieser Zeit gerade von dem Martyrium,
das er in Filimonki erlitten hatte –, entschied Olga |320| sich, Kontakt zu Natascha aufzunehmen, die sie seit mittlerweile sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie schrieb ihr einen
Brief und schickte ihn an ihre ehemalige Adresse. »Wo bist du?«, schrieb sie. »Warum kommst du mich nicht besuchen? Ich liebe
dich.«
Natascha lebte nicht mehr in ihrer alten Wohnung. Sie hatte sie vermietet, an unzuverlässige Leute, die daraus eine Müllhalde
machten. An dem Tag, als Olgas Brief ankam, schaute Natascha gerade zufällig dort vorbei und leerte den Briefkasten. Bereits
am nächsten Wochenende ging sie ihre Tochter besuchen. Von da an sahen sich die beiden regelmäßig, manchmal zusammen mit Nataschas
neuem Lebensgefährten, einem älteren Mann, der ihr schon einmal den Hof gemacht hatte, als sie gerade einmal siebzehn gewesen
war. Er stellte sich Olga als Onkel Wolodja vor.
Mit seiner Hilfe kam Natascha vom Alkohol los und beantragte, dass Olga bei ihnen leben durfte. Anfang Oktober 1998 – etwa
zu der Zeit, als Wanja in das Pflegeprogramm aufgenommen wurde – war es dann soweit: Am Samstag, dem 10. Oktober 1998, sollte
Natascha ihre Tochter abholen und mit zu sich nach Hause nehmen. Bereits am Vortag beschlich sie ein ungutes
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