Wolkengaenger
wovon ich mir sicher war, dass es meinen Horizont erweitern würde. Alle
Schüler wurden zu einer Versammlung gerufen, um uns die Wölflinge bei den Pfadfindern vorzustellen. Ich war mir nicht sicher,
was genau es bedeutete, ein Wölfling zu sein, doch es klang, als würde man dort jede Menge aufregender Dinge erleben, wie
zum Beispiel Zelten. Nach Schulschluss erzählte ich sofort meiner Mutter davon und fragte sie, ob ich ein Wölfling werden
dürfe. Sie war nicht gerade begeistert von der Idee und fragte sich, ob das mit meiner Gehbehinderung überhaupt möglich war.
»Mom«, sagte ich zu ihr, »gib mir eine Chance.« Da konnte sie mir meinen Wunsch nicht länger abschlagen.
Als sich unsere Zeit als Wölflinge dem Ende zuneigte, mussten alle Jungs aus meiner Gruppe entscheiden, in welche der verschiedenen
Pfadfindertruppen sie anschließend wechseln |331| wollten. Wir sahen uns vier verschiedene Gruppen an, doch nur eine hinterließ wirklich Eindruck bei mir. Während sich die
meisten Jungs darauf einigten, zusammen in eine bestimmte Gruppe einzutreten, entschied ich mich für eine andere: die Gruppe
362. Es war die beste Truppe, die ich je gesehen hatte.
Meine Mutter zeigte sich besorgt. Sie glaubte, ich würde mich nicht wohl fühlen so ganz allein. »Willst du denn nicht lieber
dorthin, wo all deine Freunde sind?«, fragte sie mich.
Doch ich bestand darauf.
Das war vor fünf Jahren. Bis heute sagt Mom öfters zu mir: »Ich geb’s ja zu, John. Du hattest recht mit deiner Entscheidung.«
Dort habe ich Freunde gefunden, die Natur erkundet und wichtige Dinge fürs Leben gelernt. Doch was mir am besten gefällt,
ist, dass dort nie eine große Sache aus meiner Behinderung gemacht wurde.
Moms und meine Kirche ist die St. Paul Orthodox Church in Emmaus, Pennsylvania. Dort gehe ich zur Sonntagskirche und war früher
Messdiener. Die Kirche stellt die wohl greifbarste Verbindung zu meiner Vergangenheit dar. Meine Taufurkunde, unterschrieben
von dem Priester, der jeden Dienstag ins Babyhaus 10 kam, ist eines der wenigen Dinge, die ich aus Russland mitgebracht habe.
Die St. Paul ist eine kleine Kirche, doch die Menschen dort sind ganz wundervoll. Und ich kann mich immer darauf verlassen,
dass sie mir Popcorn abkaufen, wenn ich einmal im Jahr Geld für die Pfadfinder sammle.
Ich liebe alte Filme und habe jeden, wirklich jeden James-Bond-Film gesehen. Als ich mich 2003 für die Schule verkleiden sollte,
ging ich in einem selbstgenähten Smoking als Agent 007. Ich liebe alle Bände von J.K. Rowlings
Harry Potter
und schaue mir gern Sportübertragungen an: Football-Spiele der Philadelphia Eagles, Baseball und Golf. Ich bin einer der größten
Fans von Tiger Woods.
Mit meiner Ankunft in Amerika wurde ich Teil einer phantastischen Großfamilie, deren Mitglieder zum Teil ganz bei |332| uns in der Nähe wohnen, andere sind bis nach Texas und Kalifornien verstreut. Zur »Familie« gehören außerdem Moms Freunde,
die mich alle lieben und gut zu mir sind, und mein Hund, den wir kurz vor einem Jamboree, einem Pfadfindergroßzeltlager, gekauft
und daher Jambo getauft haben. Doch meine Familie erstreckt sich noch weiter. Ich werde nie den Tag vergessen, als Mom mir
sagte, dass Alan meine Schwester, Olga, gefunden habe. Ich war erst ein Jahr alt, als man uns auseinandergerissen und in verschiedene
Einrichtungen gesteckt hatte. Als ich dann schließlich Olgas Stimme am Telefon hörte, musste ich weinen. Meine Familie hatte
endlich zueinandergefunden.
Das größte Geschenk in meinem Leben ist jedoch meine Mutter. Ohne sie wäre ich nicht das, was ich heute bin. Unser Verhältnis
ist einzigartig. Sie liebt mich, unterstützt mich, macht mir Mut und lenkt mich. Sie liebt mich so, wie ich bin, und ist stolz
auf mich. Wenn ich Probleme habe, wende ich mich an sie. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Und sie sagt, sie
kann sich ein Leben ohne mich nicht vorstellen. Wir wissen beide, dass Gott uns zueinandergeführt hat, und wir danken ihm
jeden Tag dafür.
Ich habe großes Glück. Mein Leben ist wundervoll, doch meine Vergangenheit habe ich nicht vergessen. Wie könnte ich auch?
Ich bin allen Menschen, die an meiner Rettung beteiligt waren, sehr dankbar. Manche von ihnen haben in diesem Buch aus Platzgründen
keine Erwähnung gefunden. Ich hoffe, sie alle finden weiterhin die Kraft und den Mut, ihre Arbeit fortzusetzen, damit Kindern
derartiges Leid irgendwann
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