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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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kann und uns um ein Spielzeug bittet. Bis heute sind in Russland 5000 Kinder dazu verurteilt, ihr gesamtes Leben in einem
     Gitterbett zu verbringen. Jeder Mensch, der nur über einen halbwegs gesunden Menschenverstand verfügt, wird von einem einzigen
     Besuch in einer dieser Einrichtungen eine |328| nie wieder verheilende Wunde zurückbehalten. Solange dieses Unrecht kein Ende findet, werden meine Bemühungen nicht abreißen.«
    Und es gibt noch eine Person, die einen Platz in dieser Erzählung erhalten soll: ein elfjähriges Mädchen aus dem Kinderheim
     Nr. 31. Sie kann sich nicht an ihre hübsche Mutter mit den lockigen Haaren erinnern, die starb, als sie gerade einmal acht
     Monate alt war. Bis vor kurzem erhielt sie Besuch von einem älteren Mann, der am Stock ging. Doch er wurde nun schon eine
     Weile nicht mehr gesehen. Das Mädchen heißt Tatjana, nach ihrer Großmutter, und hat die zarten Gesichtszüge ihrer Mutter –
     und deren abstehende Ohren.
    Seit ihrer Einlieferung in das Kinderheim haben sich eine Reihe adoptionswilliger russischer Paare das Mädchen angesehen,
     doch ihre Krankenakte, laut derer sie als schwer krank gilt, hat sie alle abgeschreckt. Tatsächlich bestand ihr einziges medizinisches
     Problem in Herzbeschwerden, die bereits vor langer Zeit behandelt wurden.
    Ich hatte keine Gelegenheit, sie selbst kennenzulernen, doch mir wurde gesagt, dass sie – für ein Kind, das in einem Heim
     aufgewachsen ist – ungemein wortgewandt und aufgeweckt ist, dass sie die Zuneigung des Personals einfordert und niemandem,
     der sie einmal kennengelernt hat, je wieder aus dem Kopf geht.

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    |329| EPILOG
WOLKENGÄNGER
    September 2009
    Zehn Jahre sind seit meiner Ankunft in Amerika vergangen. Ich muss mir nur das Foto anschauen, dass Alan 1996 auf dem Grundstück
     des Internats von mir gemacht hat, um zu sehen, wie weit ich gekommen bin. Er hatte mir damals eine Baseballkappe aufgesetzt,
     um meinen rasierten Kopf zu verstecken, doch ich werde mich ewig dafür schämen. Es ist eine Kappe von den Red Sox! Es gibt
     so viele Teams – warum ausgerechnet die Red Sox?
Ich bin Yankees-Fan!
Manchmal drücke ich den Phillies die Daumen, weil ich in Pennsylvania lebe, doch ich feuere nie – nie, nie, nie – die Red
     Sox an. Ich hoffe, Neuengland verzeiht mir das.
    Heute bin ich Schüler der Freedom High School in Bethlehem, Pennsylvania. Geschichte ist mein Lieblingsfach, und am meisten
     Probleme macht mir Mathe, da einfache mathematische Grundlagen in frühen Jahren erworben werden, als ich dazu keine Chance
     hatte. Ich stehe jeden Morgen um 5.45 Uhr auf, um den Schulbus zu schaffen, und das ist alles andere als ein Spaß. Doch egal
     wie müde ich nach der Schule bin: Ich mache NIEMALS einen Mittagsschlaf.
    Als meine Mutter mich nach Amerika brachte, war ich neuneinhalb – und kam in die erste Klasse. Ich konnte kein Englisch und
     musste es schnell lernen. Doch ich hatte Glück, denn ich fand einen Freund: Danny. Er war so alt wie ich, aber schon in der
     vierten Klasse. Danny unterrichtete mich, so wie ich damals Andrej unterrichtet hatte. Andrej lernte damals Russisch von mir,
     und nun lernte ich Englisch von Danny. Zwei Jahre lang unterhielten wir uns jeden Tag vor und nach |330| der Schule. Er war der erste Mensch, der mich zu einer Geburtstagsparty einlud und mich bat, bei ihm zu übernachten. Bis heute
     ist Danny einer meiner besten Freunde.
    Mom erzählt mir oft, dass mein Lieblingswort in dieser Anfangszeit »unser« war. Da ich nie etwas Eigenes besessen hatte, konnte
     ich gar nicht oft genug von »unserem Auto« und »unserem Haus« sprechen. »Alles gehört uns«, sagte ich immer, um sicherzugehen,
     dass mir nicht wieder alles weggenommen werden würde.
    Stundenlang kann meine Mom über diese ersten gemeinsamen Monate sprechen. Einmal gab sie mir zum Beispiel einen Werkzeugkasten,
     der daraufhin mein bestgehüteter Schatz wurde. Heute weiß sie, dass meine glücklichsten Momente in Russland die waren, in
     denen ich mit dem Hammer und den Nägeln spielen durfte, die mir Sarah damals mitbrachte. Mom erzählt mir oft, wie gern ich
     im Schnee spielte und mich dabei schmutzig machte, was ich zuvor nie hatte tun dürfen. Kurz nach meiner Ankunft in den USA
     ging sie mit mir in einen Wildpark. Der Anblick der Tiere hinter den Gitterstäben beunruhigte mich. »Und warum ist dieses
     Tier eingesperrt?«, fragte ich unermüdlich.
    Eines Tages, in der dritten Klasse, geschah etwas,

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