Wolkengaenger
von der Schule nach Hause, nicht ohne zuvor all seinen Freunden zu erzählen, dass er in Kürze mit seiner Schwester telefonieren
würde, von der er als Baby getrennt worden war.
Die große Familienzusammenführung wurde zu einem technischen Minenfeld. In Moskau drängten sich alle in dem engen Flur und
wechselten sich mit dem Baby ab. Da die alten russischen Telefone über keine Lautsprecherfunktion verfügten, |323| mussten sie den Hörer herumreichen, und John alles zwei Mal sagen: ein Mal, damit seine Verwandten seine Stimme hören konnten,
und ein zweites Mal für Sarah, damit sie es dolmetschen konnte.
Doch trotz der widrigen Umstände gelang es ihnen, eine Art Gespräch zu führen. Olga erzählte John von ihrer frühen gemeinsamen
Kindheit: von Irma, dem Hund, von dem leckeren Kartoffel-Pilz-Gericht ihres Vaters und davon, wie sie zusammen mit ihrem Vater
durch den Schnee gestapft waren, um im Wald eine Tanne für das Neujahrsfest zu schlagen.
Endlich hatte Olga die Gelegenheit, ihm etwas zu sagen, das ihr all die Jahre auf der Seele gelegen hatte. Einmal, Wanja war
noch ein Baby gewesen, hatte Natascha Olga aufgetragen, auf ihren Bruder aufzupassen. Er hatte auf dem Sofa gelegen, und Olga
hatte sich nur kurz weggedreht, um eine Schallplatte aufzulegen, da war er auf den Boden geplumpst. »Verzeih mir, bitte. Ich
war noch so klein.«
Als Letztes sprach John mit Farid. Er machte eine seiner berüchtigten Pausen, dann sagte er schließlich: »Pass gut auf meine
Schwester auf, Farid.«
Später, als Olga Sarah zur Bushaltestelle begleitete, wiederholte sie lächelnd Johns Worte.
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|324| 31.
DER WANJA-EFFEKT
September 2009
John hat das Leben aller Menschen, die ihn auf seiner Reise begleitet haben, verändert – bei manchen im Kleinen, bei anderen
im Großen.
Wika beschreibt es so: »Wanja hat eine erstaunliche und seltene Gabe: die Gabe, eine Beziehung zu Menschen aufzubauen. Sich
mit ihm zu unterhalten ist wie Balsam für die Seele. Und das hat ihm das Leben gerettet. Durch ihn habe ich Talente in mir
entdeckt, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie in mir schlummerten. Ich lernte, Menschen zusammenzubringen und mit
Behörden umzugehen.«
Sarah unterstützt weiter die Arbeit der britischen Wohltätigkeitsorganisation Action for Russia’s Children (ARC), zu deren
Gründungsmitgliedern sie einst gehörte. ARC unterstützt russische Menschenrechtsinitiativen bei ihren Bemühungen, Kindern
eine Alternative zu staatlichen Fürsorgeeinrichtungen wie Waisenhäusern und Kinderheimen zu bieten. Im Jahre 1999 wurde Sarah
für ihre Verdienste um das Wohl benachteiligter Kinder von Queen Elisabeth II. der Orden MBE (Member of the Order of the British
Empire) verliehen.
Emily Spry, die britische Studentin, die Wanja im Krankenhaus Nr. 58 besuchte, kehrte für ihr Literaturstudium an die Oxford
University zurück, fühlte sich dann aber dazu berufen, Ärztin zu werden. Sie hat sich für Kinderheilkunde entschieden.
Elvira, Wanjas Freundin mit den kohlrabenschwarzen Haaren, mit der er sich im Krankenhaus Nr. 58 den Flur teilte, |325| wurde kurz vor ihrer Verlegung in ein Internat von einer amerikanischen Familie adoptiert. Sie lebt in Oklahoma und heißt
heute Elena. Sie geht in die elfte Klasse, hat eine besondere Begabung für Naturwissenschaften und spielt Gitarre und Klavier.
Ihre Lieblingsautoren sind J.R.R. Tolkien und C.S.Lewis. Sie betrachtet Jesus als den wichtigsten Einfluss in ihrem Leben.
Andrej, Wanjas Freund aus dem Babyhaus 10, hatte Moskau schon 1996 verlassen, um in Florida ein neues Leben zu beginnen, wo
sein Adoptivvater ein Fünf-Sterne-Hotel leitete. 1999 ging er mit seiner Familie nach Russland. Bis heute leben sie in Moskau
und haben inzwischen über zwanzig Kinder aus benachteiligten Verhältnissen aufgenommen. Andrej und sein Vater besuchen das
Babyhaus 10 regelmäßig.
Wladimir Putin, von 2000 bis 2008 russischer Präsident und seit Mai 2008 Ministerpräsident, erklärte im Jahr 2006, dass er
sich für alle verlassenen Kinder Russlands einen Platz in einer Familie wünsche. Doch noch immer befinden sich über 800000
Kinder in der Obhut des russischen Staates – das sind mehr als zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als große Teile der UdSSR
in Trümmern lagen.
Maria Ternowskaja, die Gründerin des ersten russischen Pflegeeltern-Projekts, setzt ihre Arbeit trotz zunehmender Anfeindungen
von Seiten der Bürokratie weiter
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