Wolkengaenger
verboten. Und Kinder, die nicht geeignet schienen, die Überlegenheit der sozialistischen Utopie zu verkörpern,
wurden zunehmend aus der Gesellschaft ausgesondert und entmündigt.
Alternative Betreuungsformen in offeneren Institutionen sowie allgemein zugängliche Fördereinrichtungen blieben entsprechend
unterentwickelt. Seit der Stalin-Zeit bis weit in die achtziger |337| Jahre hinein dominierte die institutionalisierte Heimerziehung das Bild. Öffentlich, d.h. außerhalb der pädagogischen oder
juristischen Fachwelt, wurde über die Heime und die dort untergebrachten Kinder nicht gesprochen. Wenn John Lahutsky in seinem
Prolog von einem Kinder-Gulag spricht, sind es diese Aspekte, die den berüchtigten Strafgefangenenlagern und den staatlichen
Betreuungseinrichtungen gemeinsam sind: die Isolation und das Verschweigen.
Ansätze zur Veränderung
Das Bild- und Filmmaterial, die Berichte und Statistiken, die ab den frühen 1990er Jahren in Umlauf kamen, lösten eine Welle
der Empörung aus. Lokale Initiativen wurden gegründet, und Hilfsorganisationen leiteten Sofortmaßnahmen ein, um die schreiende
Not zu lindern. Seitdem hat sich ein weltweites Netzwerk von Organisationen gebildet, die auf vielfältige Weise die Zukunftsaussichten
gefährdeter Kinder langfristig verbessern wollen: Zur unmittelbaren Verbesserung der Lebensumstände in den Heimen selbst werden
Sachspenden gesammelt, Personalschulungen initiiert und finanziert, freiwillige Helfer angeworben und nach Möglichkeit Kontakte
zu den Herkunftsfamilien der Kinder aufgebaut. Studien, die Daten zu Ursachen und Entwicklung der Heimunterbringung erheben,
liefern die Grundlage für alle weiteren Maßnahmen. Um Heimkinder in die Gesellschaft zu reintegrieren, werden Freizeiten organisiert,
Pflegefamilien angeworben und betreut, Adoptiveltern gesucht oder kleinere, familiärere Betreuungsformen geschaffen. Frühförderangebote,
Beschützende Werkstätten und Elternnetzwerke sollen Eltern dazu ermutigen, ihre Kinder wieder zu sich zu nehmen – oder, besser
noch, verhindern, dass sie ihre Kinder überhaupt in geschlossene Einrichtungen einweisen lassen.
Einige Organisationen haben bereits eindrucksvolle Erfolge vorzuweisen, sei es, dass sie dazu beitrugen, ausgewählte Heime
in lebenswertere, offenere Orte umzuwandeln, sei es, dass einzelne Institutionen geschlossen werden konnten, indem die dort
lebenden Kinder anders untergebracht wurden. Auch ist in besonders intensiv geförderten Regionen der Bedarf nach staatlicher
Betreuung messbar zurückgegangen.
Auch von Seiten der russischen Regierung wurde wiederholt der Wunsch nach Veränderung bekräftigt. Schon im Dezember |338| 1990 wurde die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert und ein neues Gesetz in Kraft gesetzt, das allen Heimkindern das Recht
zusprach, kontinuierlich gebildet, gefördert und als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft integriert zu werden. Auf der
Grundlage der neuen Verfassung von 1993 entstand 1995 ein Bildungsgesetz, das die Regierung darauf verpflichtete, jedem Kind,
unabhängig von seiner sozialen oder gesundheitlichen Lage, individuelle Förderung zukommen zu lassen.
Allerdings sind die Institutionen selbst oft geradezu immun gegen Veränderungen: Das schlecht geschulte Personal ist von sich
aus kaum in der Lage, wirksame Verbesserungen einzuleiten. Und da die karge finanzielle Ausstattung vom Behinderungsgrad der
Insassen abhängt, hat so manche Heimleitung kein ernsthaftes Interesse daran, die Kinder gezielt zu fördern. Zu Klagen kommt
es dennoch selten, weil sich selbst informierte Eltern vor den Nachteilen fürchten, die ihren Kindern aus einer offiziellen
Beschwerde erwachsen könnten; die meisten Heimkinder stehen ohnehin unter der Vormundschaft der Heimleitung. Zudem wurde das
Engagement der Nichtregierungsorganisationen durch neue bürokratische Hürden und den stark reglementierten Zugang zu den Heimen
immer wieder zurückgedrängt.
Auch haben sich offizielle Bemühungen, durch die Förderung von Pflegeelternschaften und den Aufbau von Tageszentren einen
Teil der Heimkinder wieder in die Gesellschaft zu integrieren, zunächst als wenig nachhaltig erwiesen: Ein Drittel der durch
staatliche Stellen in Pflegefamilien untergebrachten Kinder wurde in jüngster Zeit wieder in die Heime zurückgegeben, und
in den Tageszentren blieb die Personalausstattung unzureichend. Nicht zuletzt trägt die
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