Wolkengaenger
sagen schien: Endlich bist du gekommen,
um mich zu holen.
Die beiden kamen vom ersten Augenblick an gut miteinander aus. Bereits kurze Zeit später saßen sie zusammen auf dem mit Teppich
ausgelegten Boden, und Wanja lehnte sich behaglich an Linda. Während Linda mit Wika und Sarah plauderte, spielte Wanja gedankenversunken
an einer ihrer Locken herum. Zufrieden beobachtete Wika, wie schnell ihr Schützling eine Beziehung zu seiner zukünftigen Mutter
aufbaute. Linda kramte in ihrer Tasche, holte ein Paar feste Turnschuhe mit Klettverschlüssen hervor und tauschte sie gegen
die gestrickten rosafarbenen Babyschuhe, die er trug.
Wika erklärte dem Personal, dass Linda Wanjas zukünftige Mutter sei, woraufhin ihnen, wenn auch nur widerwillig, erlaubt wurde,
Wanja für ein Foto vor den silberfarbenen Birken mit nach draußen zu nehmen.
Lindas Besuch schien unter einem guten Stern zu stehen. Zufälligerweise fiel ihr kurzer Aufenthalt in Moskau genau mit der
Ankunft jener Familie aus Florida zusammen, die gekommen war, um das Adoptionsverfahren für Andrej abzuschließen. Tom war
Manager eines Hotels, und Roz, seine Frau, unterrichtete die beiden Kinder, John David und Sarah, zu Hause. Den Mut und die
Kraft, es mit der russischen Bürokratie aufzunehmen, schöpften sie aus ihrer Überzeugung, dass Gott sie zu Andrej geführt
hatte.
Es war der Tag, an dem Tom und Roz Andrej im Babyhaus abholten. Nie zuvor waren so viele Besucher gleichzeitig dort gewesen.
Sarah traf als Erste ein und brachte die amerikanische Familie mit. Zur Feier des Tages begrüßte Adela ihre Besucher persönlich,
schließlich kamen die Ausländer heute in einer dienstlichen Angelegenheit, Adela hatte also nichts zu befürchten, wenn sie
sie hereinließ. Als Nächstes kam Alan, der einen weiteren Artikel über die beiden Jungen zu schreiben |175| plante und aus diesem Grund einen professionellen Fotografen dabeihatte. Zum Schluss trafen Wika, Linda und Wanja ein, der
ausnahmsweise Ausgang aus dem Sanatorium erhalten hatte, um seinen Freund zu verabschieden.
Das Zusammentreffen der beiden Freunde, die sich seit drei Monaten nicht gesehen hatten, war sehr ergreifend. »Andrjuscha«,
rief Wanja beim Anblick seines alten Freundes, »da bist du ja!«
Adela führte ihre Gäste in einen Raum, der, wie so viele andere auch, besonderen Anlässen vorbehalten war. An einer der Wände
tat sich eine strahlende Mittelmeerlandschaft auf, mit einem tiefblauen, stillen See, gesäumt von Pinien und Felsen. Vor dieser
Kulisse hatte Adela einen Tisch mit Tee, russischen Salaten und verschiedenen gekauften Kuchen aufgebaut, und lief nun geschäftig
hin und her, um allen Tee einzuschenken.
Alles verlief reibungslos – wenn auch nicht ganz ohne Pannen. So hatte Andrejs zukünftige Schwester Probleme mit dem schalen,
kohlgeschwängerten Geruch im Babyhaus und musste in regelmäßigen Abständen nach draußen an die frische Luft gebracht werden,
um ihre Übelkeit zu bekämpfen. Außerdem waren Wanjas neue Schuhe, für die extra ein Umriss seiner Füße angefertigt und nach
Manchester gefaxt worden war, bevor Linda sie gekauft hatte, auf unerklärliche Weise verschwunden, und er trug wieder die
alten rosafarbenen Babyschuhe. Und nicht zuletzt stand Adela Auslandsadoptionen nach wie vor misstrauisch gegenüber, beschränkte
sich aber darauf, ihre Zweifel Alan ins Ohr zu flüstern.
»Diese Amerikaner scheinen gute Menschen zu sein«, sagte sie. Doch inzwischen konnte Alan gut genug zwischen den Zeilen lesen,
um zu verstehen, dass sie genau das Gegenteil meinte.
»Ja, das sind sie. Gute Christen.«
»Sie werden doch nicht seine Organe verkaufen, oder?«
»Um Himmels willen, Adela. Warum sollten sie das tun?«
»Ausländer tun solche Dinge. Ich habe davon gelesen. Sie stehlen kranke russische Kinder, schneiden sie auf und verkaufen
ihre Organe für Transplantationen.«
|176| »Sehen Sie sich diese Menschen doch an. Sie sind der festen Überzeugung, dass Gott sie zu Andrej geführt hat, damit sie ihm
ein Zuhause geben.« Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um anzumerken, dass Andrej ohne diese Auslandsadoption das Schicksal
einer russischen Irrenanstalt und damit der Tod ereilen würde.
Der Fotograf regte ein Gruppenbild an und brachte alle in Position, mit den beiden Adoptivmüttern und den Jungen in der Mitte.
Dabei fiel allen die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen den beiden Jungen und ihrer jeweiligen
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